Textatelier
BLOG vom: 12.11.2008

Die Engländer müssen aufs einfache Leben umsteigen

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Die Engländer leiden besonders stark an der sich vertiefenden Wirtschaftskrise. Sie verlieren ihre Stellen und stehen nackt da, ihres Selbstwertgefühls beraubt. Wer sich weiterhin im Kader behaupten will, muss seine Freizeit aufgeben und rund um die Uhr schuften. Kein Wunder, dass mehr und mehr Leute dem Druck der Rezession entfliehen wollen und sich nach dem einfachen Leben sehnen. Einfach ist ein solcher Wechsel nicht. Er bedingt eine Abkehr vom Materialismus. Die Konsumsucht muss aufgegeben und die Kreditkarte zerschnitten werden.
 
Die „Rückkehr zur Natur“ hat viele Vorgänger, wie vom Schweizer Philosophen und Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) in seinem autobiographischen Buch mit dem Titel „Les Rêveries du promeneur solitaire“ veranschaulicht. Dieser einsame Wanderer fand u. a. seine Schutzinsel auf der St. Peters insel im Bielersee. Die erholsamen Schweizer Seelandschaften sind für mich wie Seelenlandschaften – beruhigende und erholsame, doch kurzfristige Aufenthaltsorte. Als eingefleischter Stadtmensch kehre ich nachher gern wieder frisch gestärkt ins belebende Stadtleben zurück. Ich wäre schlecht gerüstet fürs einfache Leben in einer umgebauten Scheune oder in einem Schuppen, sei es in den Bergen oder abseits irgendwo im regennassen Wales.
 
So bedingt das Umsteigen ins einfache Leben nicht zwingend einen geographischen Ortswechsel. Auch ist der eigene Gemüseanbau nicht jedermanns Sache, es sei denn, man befolge im übertragenen Sinne Voltaires Ratschlag: „Cultiver son jardin.“ Der innere „Ortswechsel“ findet abseits von verspielten Wunschträumen statt – im Gesinnungs- und Verhaltenswandel.
 
Einfach ist ein solcher Wandel nicht. Mir ist der Titel einer vor 25 Jahren erschienenen SRI-Studie geblieben: „Voluntary simplicity“ (Freiwillige Einfachheit). Wer freudlos unter Druck und Zwang seine Karriere vorangetrieben hat, für den ist Freiwilligkeit ein Fremdwort geworden: Dem Karrenhund fehlt der Karren. Der Kollaps von Vermögen und Stellung weicht einem anderen Zwang – dem Zwang der Notwendigkeit …
*
Was erleichtert den Umstieg ins einfache Leben? Ich wähle hier – blogbedingt – bloss 3 aus vielen Möglichkeiten:
 
Fingerzeig: „Sich und anderen nichts vormachen – und sich mit der Prestigeeinbusse abfinden.“
Das ist mach- und gangbar. Damit werden vermeintliche Notwendigkeiten entwertet. Ihr Erwerb ist ans Geld gebunden. Und fehlt das Geld, gebe man das Luxusauto auf und schwinge sich auf den Velosattel, benutze öffentliche Verkehrsmittel oder des Schusters Rappen. Das Fahrrad und das Schuhwerk können Freudenspender werden: Sie halten uns in Bewegung, was gesund ist, und beleben unsere Wanderlust. Wir sind dem Zwang entbunden und bestimmen unsere eigenen Ziele.
 
Fingerzeig: „Stellensuche in neuer Richtung und Umschulung“
Dazu muss man zu Lohnabstrichen bereit sein. Schon 40-Jährige werden heute verschrottet. Ihr wertvollstes Kapital ist die Erfahrung, die sich in neue Aufgaben verpflanzen lässt. Diese Schatzgrube ist jedem auf seine Façon zugänglich. Wem etwa die Wohlfahrt anderer Menschen am Herzen liegt, findet viele neue Lebensaufgaben und wird nicht verhungern. Er gewinnt erst noch einen bekömmlichen Ausgleich zwischen Arbeit und Freizeit.
 
Fingerzeig: „Die Welt neu entdecken“
Als Kind trieb uns die Neugier. Die Welt war für uns taufrisch. Oder täusche ich mich? Heute wollen Kinder elektronisches Spielzeug. Ihre angeborene Spiellust versandet: Sie ist bevormundet und ist vorprogrammiert. Damit werden die Kinder zu Konsumenten abgerichtet. Diesem Konsumvirus ist schwer beizukommen. Aber jeder „Grossgewordene“ hat Erinnerungen gesammelt, auf dem Spielplatz, auf Ausflügen. Er lernte Schwimmen, Turnen, Tanzen und konnte Eltern und Lehrer ärgern (letzteres bereitete mir viel Spass – bis ich gemassregelt wurde …).
 
Mit der Krise – hier wirtschaftlicher Art – gewinnen wir Zeit zur Einkehr, zum Nachdenken. Längst verblichene Erinnerungen werden aufgefrischt. Mit etwas  Spürsinn lässt sich der Selbstbedienungsladen zur Freude finden, ohne Kaufzwang. Die besten Freudenquellen fliessen gratis. Das klingt abstrakt und philosophisch, wofür ich mich entschuldige. Aber das basiert auf meinen eigenen guten Erfahrungen, die ich bei jeder Gelegenheit bereichern will. Damit lässt sich viel Lebensfreude neu gewinnen. Die Welt, die eigene, wird neu entdeckt.
*
Hier klemme ich ab und schiebe einige Aphorismen ein, die hoffentlich zum Thema passen: 
Knappe sind die besten Mittel zum soliden Lebenswandel.
 
Sich und andern nichts vormachen, ist eine Rosskur, die wenige wagen. Zwar ist verbürgt, dass man sie heil übersteht. Eben das möchte niemand erleben.
 
Er brauchte sich nichts vorzumachen. Das wurde allseits anerkannt.
 
Bildlich gedacht: Wer aus dem Rahmen fällt, war wohl als Bild zu sehr auf den Rahmen bedacht.
 
Ohne Einkommen auskommen? Dumme Frage bei geistigem Vermögen.
 
Der Blick in die Weite hilft zuweilen, dass man sich auf das Nächste besinnt.
 
Er hielt Einkehr und bewirtete sich fürstlich.
 
Als er klein war, sprach er von kleinen Dingen gross. Als er gross war, sprach er von grossen Dingen klein.
 
Er hing alles an den Nagel – der leider abbrach.
 
Und als er am Ende seiner Karriere den ganzen Sandkasten endlich für sich allein hatte, merkte er, dass die Zeit ihm allen Sand weggeblasen hatte.
 
So arm er auch war, fuhr er auf der Gedankenbahn stets erste Klasse.
 
Wenn alle in einem Boot sind, ist es höchste Zeit zum Sprung über Bord.
 
Die Pleite ernährt Geier auf Kosten Gläubiger.
 
Es genügt oft, die Gangart der Routine zu wechseln.
 
An die Wand gedrängt zu werden, verschafft Rückhalt.
 
Er benutzte die Uhr als Winkelmesser seiner Freiheit.
 
Längst ist die Karriere keine Leiter mehr, an festes Gemäuer gelehnt, von der man sicher übersteigt ins Stockwerk abgesicherter Macht.
 
Die Hürde wird im Anlauf genommen – nicht unbedingt im ersten.
 
Eine Glückssträhne soll niemand scheiteln; eine Pechsträhne hingegen jedermann gelockt tragen.
 
Aus Not entstanden schon viele Tugenden. Es wäre anders, brächten Tugenden in Not.
 
Die meisten Trostpillen schmecken bitter.
 
Zwischen Reigentanz und Reihentanz liegt die Kindheit begraben.
 
Dem jungen Menschen winken Erfahrungen zu, dem alten nach.
 
Mit etwas Glück schenkt uns das Leben etwa 27 000 Tage, wovon leicht ein Drittel vergeht, bis wir den wahren Wert eines einzigen Tags erkennen. Dabei hätten man es viel gemütlicher haben können …
 
Routine ist reibungslos, angenehm und leicht erwerbbar. Aus diesem Grund wird der Zustand, wie er ist, so selten und zögernd mit dem Zustand, wie er sein sollte, ausgetauscht.
 
Das Schlagwort „marktgerecht” überrumpelt alle Qualitätsbegriffe.
 
Der Weltengang verärgert mitunter sehr, im Grossen wie im Kleinen. Zur Freude muss man sich in dieser Welt schon selbst in Gang bringen.
 
Viele sitzen lebenslänglich im Gefängnis und glauben sich in der Freiheit.
 
Viele Leute verdienen damit, nicht zu sagen, was sie denken, und nicht zu tun, was sie wollen.
 
Dort verdient man weniger, doch kommt man besser aus. Die Frage ist nur: Wo?
 
Nicht in der Beschränkung, sondern in der Einschränkung zeigt sich der Meister.
 
Ein armer Tropf guckte in seinen leeren Topf und stülpte ihn über seinen Kopf. Das soll ihm ein Reicher nachmachen.
 
In welchem Element fühlt man sich wohl? In jenem, das zuletzt Freude abwirft, selbst wenn es zuerst viel Mühe und Geduld abfordert. 
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