Textatelier
BLOG vom: 10.12.2008

Kurzgeschichten-Wettbewerb (4. Teil): „Gewissensfrage“

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Dieser Kandidat stellte seiner Geschichte die Fragen voran: Hat Kain ein Gewissen gehabt? Wo beginnt und endet das Gewissen?
*
In seiner Lektüre gestört, schaute Erwin auf, und sein Blick stiess mitten in ein ihn aufdringlich musterndes Augenpaar. War das bloss Zufall? Er kannte sein Gegenüber nicht. „Flausen“, dachte Erwin und versenkte sich wieder in die Zeitung. Die Kaffeepause zwischen Kundenbesuchen war zu kurz, um sich über einen taktlosen Gaffer aufzuhalten. Als er nach seinem Glas Tomatensaft griff, stellte er fest, dass er weiterhin beobachtet wurde.
 
Erwin zupfte an seiner Krawatte, ungewiss, wie er sich verhalten sollte. Verwirrt legte er die Zeitung beiseite und griff nach seiner Taschenagenda. So oft er über die Brillengläser hinweg schaute, wich ihm der Unbekannte zwar behend aus, doch mitunter eine Spur zu spät. Erwin begann sich zu ärgern.
 
Erwin war ein umgänglicher Mensch, der lieber gefallen als zanken wollte. Er vertrieb Markenparfüms in Drogerien und Kaufhäusern und hatte beruflich und ausserberuflich viel mit Frauen zu tun. Kurzum, er war ein Schürzenjäger. Er war ein Junggeselle, und seine Affären waren durchwegs kurzlebig und lösten einander ab. Er hatte es auf verheiratete Frauen abgesehen. Das ersparte ihm viele Umtriebe und Vorwürfe.
 
Da seine Agenda aufgeschlagen war, begann er darin planlos zu kritzeln: „Hemden abholen“, „Blumen bestellen“ – mehr fiel ihm nicht ein. Warum erweckte das Gesicht dieses Fremden dumpf eine Erinnerung, eine unangenehme, wie er im Kalender blätterte? Er starrte auf ein Blatt, auf dem bloss der Name ohne Adresse vermerkt war: Adele. Wegen der vollgeschriebenen Rückseite hatte er das Blatt nicht herausgezupft.
 
Ihr Name beschwor eine leidliche Geschichte herauf. Adele war als Assistentin im Labor seines Arbeitgebers tätig gewesen und hatte die Musterkollektion der Vertreter betreut. Sie war keineswegs prüde und lachte bei gewagten Spässen herzhaft mit. Seine angestachelte Phantasie spielte ihm einen Streich. War dies ihr Mann, der ihn beschattete? Hatte sie ihm nicht einmal sein Foto gezeigt und scherzend gedroht: „Wenn er dies wüsste!“ Finster genug blickte dieser Kerl drein.
 
Eines Abends, nicht lange ist es her, musste sie Erwin schon um 10 Uhr verlassen und hatte abgelehnt, dass er sie begleite. Der Lenker des Lieferwagens war viel zu schnell in die Seitenstrasse eingebogen, erfuhr er anderntags. Für ihn stellte sich überhaupt keine Schuldfrage. Ihren tödlichen Unfall schrieb er dem Schicksal zu. Adele war innert Tagen aus seiner Erinnerung gelöscht.
 
Erwin bezahlte und stand auf, der Mann ihm gegenüber ebenfalls. Doch begrüsste dieser, nicht eben freundlich, eine Frau, wohl seine Gattin, die offensichtlich arg verspätet das Lokal betrat. „Eine geschlagene Stunde schon warte ich auf dich!“ So hatte der Fremde nicht ihn, sondern den Eingang im Auge behalten – im Wandspiegel genau hinter Erwins Kopf. Ein Missverständis also. Erwin schmunzelte halb beschämt, halb erleichtert, als er die Strasse betrat.
 
Plötzlich riss ihn jemand unsanft am Ärmel zurück. Noch einen Schritt, und er hätte die Fahrbahn des Autos abgeschnitten. „Glück gehabt“, sagte sein Retter. Erwin bedankte sich und ging nachdenklich weiter.
 
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