Textatelier
BLOG vom: 17.01.2009

Kurzgeschichten wiederbeleben: Alex Käser und Jürg

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Wie schon in meinem Blog vom 26.12.2008 („Kurzgeschichten-Wettbewerb: Preisträger“) angetönt, teile ich Professor Lehmanns Meinung, dass die einst beliebte Form der Kurzgeschichte wieder aufleben wird. In England ist dies bereits der Fall. Möge auch dieser Beitrag zum Aufblühen der Kurzgeschichte beitragen!
 
Ein gediegener, älterer Herr ging alle Tage seine Zeitung am Kiosk kaufen. Das tue seiner Blutzirkulation gut, hatte ihm sein Arzt geraten, und er befolgte seinen Rat und schritt rüstig voran, auch an jenem bitterkalten Wintertag in Luzern. Er ging über die Kappelerbrücke und war mitten in der Innenstadt. Mit der Zeitung unterm Arm ging er der Seepromenade entlang zu seinem Lieblingscafé, wo er noch immer unbehelligt seinen Stumpen rauchen konnte. Herr Alex Käser genoss als ehemaliger Bankdirektor ein lokales Ansehen, tauschte Grüsse links und rechts aus und liess sich hin und wieder gern zu einem Schwatz ein.
 
„Wohl ein Drogensüchtiger“, dachte er, als er den jungen ausgemergelten Mann neben der Türe des Cafés bemerkte. „Besser 2 als 1 Franken“, klaubte er das Münz aus dem Portemonnaie, bückte sich und legte das Geld in die umgeschlagene Mütze des Bettlers. Immerhin hätte der Bettler Dankeschön sagen dürfen. Aber heute gilt der Anstand wenig. Alex Käser trat durch die Türe. Wohlige Wärme empfing ihn und die stets aufmerksame Serviertochter. „Wie immer“, sagte er zu ihr und entledigte sich seines Lodenmantels, den er mitsamt dem Kaschmirschal über den freien Stuhl neben ihm legte. „Für die Garderobe wird nicht gehaftet“, stand auf dem Schildchen oberhalb der Kleiderhaken zu lesen.
 
Seine Frau war vor einem Jahr gestorben, und jäh erinnerte er sich schuldbewusst, genau am heutigen Tag. So beschloss er nachher einen Strauss Blumen auf ihr Grab zu legen und schlug die Zeitung auf, wie ihm die Serviertochter seinen Milchkaffee brachte. Aus Gewohnheit blätterten sich seine Finger zum Lokalteil vor, wiewohl jeden Tag ähnliche Nachrichten einander ablösten: Unglücksfälle, Diebstähle, kurze Kommentare zu lokalen Anlässen wie etwa Hochzeiten der Prominenz. Er überflog auch die Todesanzeigen. Ab einem gewissen Alter sind diese wichtiger als Hochzeiten. Darunter sichtete er den Namen Franz Hugentobler. Er war der 1. Mann seiner Frau gewesen, von dem sie einen Sohn gehabt hatte. Alex Käser war selbst kinderlos geblieben. Dieser Sohn, wie hiess er schon wieder … Jürg, fiel ihm der Name wieder ein, war seit Jahren schon verschollen. In einem Silberrahmen war sein Foto nach wie vor auf dem Kaminsims – aus Pietätsgründen versteht sich. Alex Käser hatte ihn nicht gekannt. Er gehört zur Vorgeschichte seiner Frau. So bestand auch kein triftiger Grund, der Beerdigung von Hugentobler beizuwohnen. Alex Käser legte die Zeitung beiseite, trank einen Schluck Kaffee und angelte seinen Stumpen aus der Packung.
 
Sein Tag hätte seinen gewohnten Verlauf genommen, hätte sich nicht, als er das Café verliess, der Bettler erhoben und sich ihm in den Weg gestellt. „Was wollen Sie von mir?“ fragte ihn Käser. „Sie heissen doch Käser, Alex Käser?“ wandte sich der Bettler an ihn. „Na und?“ erwiderte Käser etwas konsterniert. „Und Sie sind mit Charlotte verheiratet gewesen“, verfolgte der Bettler sein Thema. „Das stimmt“, brummte Käser, „aber sagen Sie mir, was soll das alles? Das geht Sie doch nichts an!“ Käser wollte diesem ungemütlichen Gesellen entkommen. „Da, nehmen Sie meine Zeitung, wenn Sie wollen“, schickte sich Käser zum Weitergehen an. „Die habe ich schon gelesen. Übrigens: Haben Sie Hugentobler gekannt?“ Verblüfft hielt Käser inne. „Warum wollen Sie das wissen?“ – „Ich bin sein Sohn“, bekam er zur Antwort. Ungläubig starrte ihm Käser ins Gesicht: eingefallene Wangen, ein wirrer Blick, Bartstoppeln, 1 Schneidezahn fehlte. Nein, mit diesem Kerl wollte sich Käser nicht einlassen, Hugentoblers Sohn hin oder her. Für ihn war er weder verantwortlich noch haftbar. Entschlossen betrat Käser den Blumenladen an der Ecke.
 
Der scheussliche Geselle hatte draussen auf ihn gewartet. Das stellte er fest, als er den Blumenladen verliess. „Ich weiss, wohin Sie mit diesen Blumen gehen, und ich komme mit. Schliesslich ist sie meine Mutter.“ Achselzuckend ging Käser weiter zur Tramhaltestelle. Er konnte ihn nicht abschütteln. Erst als er den Friedhof verliess, gelang es ihm, ein Taxi zu erwischen, und so entkam er ihm. Wieder zuhause, beschaute Käser das Foto und musste zugeben, dass der Bettler gewisse Gesichtszüge mit Jürg gemeinsam hatte: die Backenknochen und etwas abstehende Ohren, das Kinn. Besorgt beschloss er, seinen Anwaltsfreund zu sich zu bitten, und berichtete ihm über diese unliebsame Begegnung. „Ich werde ihn durchleuchten lassen“, versprach ihm der Anwalt.
 
Am nächsten Morgen wechselte Käser seinen üblichen Spazierweg und mied die Innenstadt. Dieser Schuft brachte seine eingespielte Routine durcheinander. Käser war verärgert. Das werde er sich nicht bieten lassen, beschloss er. Ehe er sich am nächsten Morgen auf den Weg machte, rief er das Café an, sprach mit der Serviertochter und fragte sie: „Lungert der Bettler noch immer vor der Türe herum?“ Sie schaute nach und versicherte ihm, dass niemand draussen vor der Türe sass. „Der Regen wird ihn wohl vertrieben haben …“ Misstrauisch spannte Käser seinen Regenschirm auf und wechselte absichtlich unter die Arkaden auf die andere Strassenseite über. Das hätte er sich denken sollen, dort, genau gegenüber dem Café, erhob sich sein Quälgeist von vorgestern. Käser nahm Reissaus und sprang über die Strasse. Hier hätte die Geschichte ihr vorzeitiges Ende gefunden, doch mit knapper Not entkam er einem Auto auf der Fahrbahn. Im Café fühlte er sich diesmal wie ein Gefangener. Die Serviertochter hatte Verständnis für seine missliche Lage und wies ihm den Ausweg durch den Lieferanteneingang hinter der Küche. Er winkte wiederum ein Taxi herbei und fuhr schleunigst nach Hause. „Warum nicht seinen jeweils für den Frühling geplanten Aufenthalt in Yverdon-les-Bains vorverlegen?“ So gedacht, so ausgeführt. Eine ganze Woche genoss er seine Badekur. Einigermassen erholt fand er sich wieder in Luzern ein.
 
Inzwischen war sein Anwalt fündig geworden. Was er von ihm erfuhr, scheuchte Käser wieder aus seiner frisch gewonnenen Ruhe auf. Der junge Mann hiess tatsächlich Jürg Hugentobler. 3 Jahre war er in Sidney wegen eines brutalen Raubüberfalls im Gefängnis gesessen. Die Schweizer Botschaft musste ihm einen neuen Pass ausstellen, und wie er sich ausdrückte, den Burschen „repatriieren“. Er beziehe jetzt Unterstützung von der Arbeitslosenkasse und erhalte seine Drogenration von der kantonalen Klinik. Hin und wieder tauche er im Obdachlosenheim auf.
 
Sehr beunruhigt fragte Käser seinen Freund „Was um Himmels Willen will der Kerl von mir?“ Dieser antwortete ausweichend: „Schwer zu sagen … Vielleicht will er den ihm zukommenden Erbteil seiner Mutter einlösen … oder er versucht, auf anderen Schleichwegen Geld zu erpressen.“
 
„Also ein Erpressungsversuch an mich, von einem Sohn, der nicht meiner ist, und den ich überhaupt nicht kenne! Dafür hafte ich nicht.“
 
„Das ist bloss eine Vermutung vorderhand, aber sie sollte vorsichtshalber ins Auge gefasst werden“, meinte der Anwalt. „Gesetzt, dieser Fall trifft zu, lässt er sich vielleicht mit einer Abfindung abspeisen. Dies müsste schriftlich festgehalten werden und gesetzlich abgesichert sein. Auf alle Fälle werde ich den entsprechenden Text für dich vorbereiten, den er in meinem Beisein falls es dazu kommt, unterschreiben muss. Andernfalls könntest du dich mit der Polizei in Verbindung setzen. Nur liegt kein Indiz gegen ihn vor, und folglich ist die Polizei machtlos; die kann nicht intervenieren. Am Besten wartest du ab, denn das alles ist sehr spekulativ. In der Zwischenzeit exponiere dich nicht, ändere wenn immer möglich deine Routine und sichere dein Haus vor ihm ab. Mehr kann ich dir augenblicklich nicht raten. Ich kann nur hoffen, dass er sich nicht bei dir, sondern bei Hugentoblers meldet, wenn überhaupt.“
 
„Merkwürdig, dass die Suche nach ihm seitens meiner Frau damals, längst vor meiner Zeit, fehlgeschlagen hat …“
 
„So ist es – und kommt öfters vor. Ich weiss nicht, ob sich damals die Interpol an der Suche beteiligt hat. Selbst dann werden Verschollene selten aufgestöbert, es sei denn, sie hätten eine Million geraubt.“
 
Während der folgenden Monate befolgte Käser den Rat seines Freundes. Immer seltener verliess er sein Haus, und wenn schon, blieb er in seinem Quartier. Seine Haushälterin war um ihn besorgt und sein Anwaltsfreund ebenfalls. Litt Käser an Verfolgungswahn? Der sonst so leutselige und umgängliche Mann wurde menschenscheu. Er zog sich bald dieses, bald jenes Leiden zu. Sein Arzt verschrieb ihm Beruhigungsmittel und Medikamente gegen zunehmende Zirkulationsstörungen und sprach ihm eindringlich zu, wieder mehr zu gehen. Bald war Käser auf seinen Spazierstock angewiesen. Er hatte einen schlurfenden Gang. Natürlich versuchte er sich aufzuraffen, aber konnte seinen imaginären Erpresser nicht verbannen, der ihn nachtsüber in seinen Träumen heimsuchte.
 
Jürg seinerseits hatte keinerlei Erpressungsabsichten. Er kreuzte in der Luzerner Innenstadt auf und erbettelte weiterhin Almosen. Ein anderer Vagant hatte ihm einen Hund geschenkt, den er hegte und fütterte. Ausserdem hatte er sich eine Mundharmonika angeschafft, die ihm zu mehr Almosen verhalf. Er schämte sich, als Lump in seine Heimatstadt zurückgekehrt zu sein. In seinen Drogenhalluzinationen erschien ihm immer wieder seine Mutter. Manchmal kaufte er mit dem erbettelten Geld einen Blumenstrauss, den er auf ihr Grab legte. Ja, einmal hatte er bei Hugentoblers angeklopft. Es war der Bruder seines Vaters gewesen, der ihn barsch vertrieb, ehe er sich äussern konnte. Jürg spielte mit dem Gedanken, Käser aufzusuchen, dessen Adresse er ausfindig gemacht hatte. Gerne hätte er ein Bild von seiner Mutter gehabt. Verschiedentlich versuchte er einen Brief an Käser zu schreiben. Doch er fand die Worte nicht, um seine schlichte Bitte um ein Foto seiner Mutter aufs Papier zu bringen, trotz seiner einstigen guten Schulausbildung. Endlich, nach einem neuerlichen Anlauf, brachte er seinen Brief an Käser auf die Post.
 
Kaum hatte Käser diesen Brief erhalten und gelesen, bat er seinen Anwaltsfreund wieder zu sich. „Diese Bitte sollte ihn doch erleichtern“, befand der Anwalt und schlug vor, dass er sie erfülle, schliesslich sei er der Sohn deiner Frau. Käser drehte das Couvert um: „Aber die Adresse fehlt.“ Zögernd fand sein Freund einen Ausweg. „Also denn, ich werde meinen eigenen Sohn bitten, einige der Bettler in der Innenstadt zu photographieren. Nachdem du dann Jürg erkannt hast, kann er ihm die Foto deiner Frau, eben seiner Mutter, zusammen mit einem Almosen überreichen.“
 
So geschah es. Ein Dankesbrief von Jürg blieb in der Folge nicht aus. Jürg stellte einige ungelenke Fragen nach seiner Mutter, etwa, wie sie ihre letzten Jahre verbracht habe. Gleichzeitig bedauerte er, sie nicht mehr lebend gesehen zu haben. Der Sohn des Anwalts wurde der Pöstler dieses Briefwechsels, der sich fortsetzte. Bald wartete Käser auf den nächsten Brief von Jürg, den er umgehend beantwortete. Käsers Lebensflamme flackerte dabei kurzfristig noch einmal auf. In seinem letzten Brief an Jürg erkundigte er sich, ob er ihm irgendwie behilflich sein könnte, um ihn, wie er sich ausdrückte, „auf die Beine zu helfen“.
 
Käser wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit verblieb und hinterlegte sein Testament beim Anwalt. Er wollte Jürg das Foto seiner Mutter im Silberrahmen mitsamt einem Bild, das den jungen Jürg zeigte, hinterlassen, zusammen mit einer monatlichen Unterstützung. Den Rest seines Vermögens vermachte er verschiedenen wohltätigen Stiftungen.
 
Kurz vor seinem Tod, bat er seinen Anwalt, ihn ein letztes Mal, doch zusammen mit Jürg zu besuchen. Und so geschah es. Jürg, neu eingekleidet, war an Käsers Beerdigung zugegen.
 
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