Textatelier
BLOG vom: 05.04.2009

„Auf der Römerstrasse“ – oder: Der ewige Frühling …

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Mit dem Alter habe ich mich zunehmend mit Kurzgeschichten beschäftigt. Jetzt gleite ich von einem Altersabschnitt in den nächsten über. Rechtens oder nicht, sind für mich solche Übergänge wie Wanderungen von einem Frühling in den anderen, solange der Frühling in meinem Herzen blüht, Altersbeschwerden hin oder her, die mich vorderhand kaum plagen. Bleibe es so! Nur mit der ewigen Uhr kann ich nicht mithalten, denn die Spanne Leben ist befristet.
 
In einem ganz anderen Zusammenhang habe ich Ausschnitte aus meiner alten Geschichte „Auf der Römerstrasse“, vor 38 Jahren in London geschrieben, in mein Blog vom 31.03.2009: (Spriessende Knospen: Ansatz- und Anknüpfungspunkte) aufgenommen. Ich bin der Auffassung, dass man aus sich heraus schreibt. So kann ich hier meine Einführung beschliessen und meine Kurzgeschichte vom Stapel lassen:
 
Auf der Römerstrasse
Der alte Mann trat aus der Haustüre und sog die Luft tief ein. Dabei musterte er den laubübersäten Gartenweg und seufzte: „Lassen wir’s heute bleiben.“ Der gestrige Sturmwind hatte aufgeräumt und von Baum und Strauch die Blätter weggefegt. Den Reisigbesen liess er links liegen.
 
Nach 2 Tagen Hausarrest, vom Wetter aufgezwungen, wollte er jetzt seinen Spaziergang zur Römerstrasse hinauf machen. „Eigentlich nicht alle“, nickte er schmunzelnd beim Betrachten der Bäume. Nichts hatte der Sausewind gegen jene gezählten Blätter vermocht, die hartnäckig mit ihren Resten von Blattgrün an den äussersten Astruten allen Attacken standgehalten hatten. Viele waren es nicht. Sie fielen nicht einmal mehr als Ausnahmen ins Auge, diese trostlosen Überbleibsel besserer Tage. Es zwang sich ihm der Vergleich auf, dass auch er einem solchen Blatt glich, das keine weiteren Stürme überdauern würde. „Aber solange etwas Blattgrün bewahrt bleibt …“, tröstete er sich und betrat vorsichtig den schlüpfrigen Weg. Wie erwartet, täuschte die trocken raschelnde Laubschicht zuoberst über die glitschige Unterlage hinweg.
 
Er hing seinen Stock an den Ellbogen und beklopfte die Aussentasche seiner Lumberjacke nach Streichhölzern. Nein, seine Pfeife würde er erst nach dem Anstieg anzünden. Einmal im Gang, fühlte er sich rüstig und gut zu Fuss. Der gewohnte Abschiedslaut fehlte diesmal: Die Gartentüre fiel nicht ins Schloss. Anstatt wie sonst vom Eigengewicht und der Schräglage gezogen ins Schloss zu schnappen, hatte das Gatter auf halbem Weg aufgegeben, von einem Laubwulst gebremst.
 
Seine Frau, hätte sie noch gelebt, wäre heute nicht mit ihm zufrieden gewesen, und er hätte sich ihrem Willen gefügt, statt seinem nachzugeben. Er ging weiter. 11 Jahre lagen zwischen ihrem Tod; knapp 2 Jahre nach seiner Pensionierung war sie gestorben. Seither hatte er wieder ganz die Gewohnheiten eines Junggesellen angenommen, wacker aufgeholt und wettgemacht, was zur Zeit seiner Heirat nur im beschränktem Masse möglich gewesen war. Seine Sammlung von Münzen, Scherben, Krügen und anderen Überbleibseln aus der Frühgeschichte Helvetiens lag nicht mehr in Kisten eingeschlossen, sondern überall liebevoll verteilt in seiner Studierstube und in anderen Räumen seines Hauses. Das war seine Welt, das Altertum, seine innerste Heimat. Nicht nur während seiner aktiven Berufsjahre als Archäologe, sondern selbst heute noch wird sein Wissen in Fachkreisen hochgeschätzt. Briefe, geschrieben von Studenten und Kollegen, brachte ihm die Post täglich ins Haus. Er beantwortete sie allesamt sorgfältig und ausführlich. Diese Korrespondenz verband ihn mit der Welt, aus der er sich nur äusserlich zurückgezogen hatte. Eine abgeschiedenere Gegend hätte er nicht wählen können als dieses zwischen sanften Hügeln eingebettete Juradorf im Welschland. Vertrauter als das Universitätsgelände war ihm hier jeder Schritt hügelauf, die Fusswege durch Wald und an Wiesenrändern entlang, denen er jetzt ab und zu innehaltend folgte. Er atmete leichter heute und freier als sonst. Das Föhnwetter, gestern noch beklagt, war einem erfrischenden Nordwestwind gewichen. Wolkenfetzen trieb der Wind wie eine Schafsherde voran. Die Hügelkette war nicht mehr erdrückend nahe gerückt. Sonne und Schatten wechselten ständig. Seit ihn das Hochklimmen stärker ermüdete, zitierte er oft und gerne das einst von Maultiertreibern an Jupiter gerichtete „pro ito et redit“. Heute aber zitierte er es nicht. Dieser Ausspruch stand auf vielen Votivtäfelchen, die man in vielerlei Formen auf der Passhöhe römischer Strassen gefunden hatte und wovon auch er einige besass. Damals waren Reisen noch voller Fährnisse. Selbst oder besonders Krieger zollten ihrem Schutzheiligen gebührenden Tribut und erbaten dafür gutes Geleit. Da gab es auf der Passhöhe des Chasseron, ein strittiger Punkt unter Gelehrten, ein Heiligtum. Wie anders liessen sich die dort aufgefunden Glöckchen deuten, wenn nicht als Weihegaben? Möglich oder zumindest gar nicht so abwegig war die Annahme, dass sich dort oben ein gallischer Eichengott trotzig gegen die römischen Nebenbuhler behauptet hatte, der „Kassano“.
 
Ein anderer berufsbedingter Ausspruch war ihm geläufig, den er hin und wieder einstreute, wenn ihn die Ungeduld nicht rasch genug sein Ziel erreichen liess. „Milia passum“ sagte er schon nach 500 Schritten. Und so hiessen die Meilensteine der Römer. Zwar gab es daneben noch ein gallisches Streckenmass, die ‚Leuge‘, den Römern zum Trotz in einigen gallischen Regionen beibehalten. Die setzköpfigen Gallier! Nicht immer fachsimpelte der Gelehrte mit sich selbst.
 
Andere, persönliche Erinnerungen oder zeitgemässe Gedanken vertrieben ihm hin und wieder die Zeit zum Ziel, und Wehmut, vermischt mit Missbehagen, konnte sich dabei einschleichen. Nach diesen stand ihm heute der Sinn. Überblickte er in der Rückschau die letzten 11 Jahre, was er ungern tat, war er im grossen Ganzen froh, wie es gekommen war, ausser, dass er bedauerte, nebst den geistigen Kindern keine leiblichen zu haben. Einesteils war das so schlecht auch wieder nicht, dachte er bei der Zeitungslektüre, wie er von Problemen aller Art las, die sich zu Mauern auftürmten und immer längere Schatten warfen. Abgesehen von den misslichen politischen Konstellationen, im krassen Gegensatz zum Weltfrieden, befremdete ihn der Vorstoss in den Weltraum. Hellsichtig genug räumte er wohl ein, dass er altershalber an solchen Errungenschaften nicht mehr mithalten wollte. Gewohnt, zeitlich zurückliegende Zeitspannen analytisch zu erfassen, aus Bruch- und Trümmerstücken folgernd, wie es einst gewesen war, half ihm sein berufliches Rüstzeug zur Vorschau, wie es möglicherweise werden wird, insoweit die sich fortwährend zersetzende Gegenwart vorzeitig „archäologisches Material“ preisgibt, woraus sich dieses und jenes über den weiteren künftigen Verlauf abschätzen lässt. Wann wird der letzte Meilenstein in der menschlichen Entwicklung, in der Kultur überhaupt, gesetzt? Die Zeitabstände von Erfindung zu Erfindung verringern sich beängstigend rasch. Brauchte es früher seine 100 oder 50 Jahre zu einem wissenschaftlichen, technologischen Durchbruch, verrosten kaum entwickelte Computer auf dem Schrotthaufen. Die Findigkeit mag allenfalls den Fortbestand des Menschen, der Fauna und der Flora noch lange sichern, sässe der ganze Mensch hinterm Steuer. Leider steuert der Intellekt allein selbstherrlich bei überspitztem Tempo. Die Vernunft wird sekundär. Das Gemüt schweigt. Und es wird die Haarnadelkurve kommen, wo der Mensch den Rank verliert …
 
„Warum so düster?“ unterbrach er seinen Gedankengang. Weht nicht ein besserer Geist von junger Seite? Verständlich, dass sie den närrischen Alten das Steuer entreissen wollen. Wohlan! Er hatte diesen Wandelprozess schon vor seinem Abschied vom Lehramt gewittert. Auch ihn, den Spezialisten, hatten sie angegriffen. Hand aufs Herz: Hatte er sich stets an Goethes Maxime gehalten „Pflicht des Historikers, das Wahre vom Falschen, das Gewisse vom Ungewissen, das Zweifelhafte vom Verwerflichen zu unterscheiden“? In seinen Büchern fanden sich Stellen, worin er gegen diese Sorgfaltspflicht gefehlt hatte. Vom Anfang der Dreissigerjahre datieren sie. Wie fehl wirkt heute sein damaliges Hochgefühl, das er zwischen den alten Römern eingeschmuggelt hatte, der Reichsgedanke – ein neues römisches Reich! Wurden diese verkappten Hymnen auch in den nachfolgenden Auflagen ausgemerzt, zirkuliert seine Urfassung noch immer in den Bibliotheken … Ein kleiner Makel fürwahr, verglichen mit den Nazi-Verbrechen, und dennoch hätte er es besser wissen sollen, gerade er, der so viel auf Goethe gab. Der Weimarer hat auch gesagt: „Eine Schule ist als einziger Mensch anzusehen, der 100 Jahre mit sich selbst spricht und sich aus seinem eigenen Wesen, und wenn es noch so albern wäre, ganz ausserordentlich gefällt.“
 
Hatte er es nicht gut, als letzter der alten Garde in seinem Häuschen am Dorfrand zu leben – ein Blatt im Spätherbst? Der alte Mann lächelte feinsinnig, wiederum milde gestimmt. Versöhnlich wollte er seine Hand ausstrecken, die der Tod im selben Augenblick ergriff. „Gex über Gingins, Begnins, Aubonne, Cossonay, Donneloye, Payerne, Avensches“, hörte er im Sturz noch die Stationen der Römerstrasse ausgerufen. Er hatte sein Ziel erreicht.
 
2 Tage später fanden Waldarbeiter seinen Körper mitten auf dem vom Wald überwachsenen Strassenabschnitt. Sie wussten nicht, dass sie auf einem etwa 4 Meter breiten ehemaligen Handelsweg standen.
 
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