Textatelier
BLOG vom: 18.11.2009

Schicksal: Auf Um- und Abwegen dem Glück entgegen

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Ich kannte Hermann nur oberflächlich. Begegnete ich ihm, oft zusammen mit seiner Frau, in der Innenstadt, begrüssten wir uns und tauschten einige Artigkeiten aus. Hermann und ich hatten einst die gleiche Schulklasse besucht. Schüler und Erwachsene auch, gleichen einander oft wie Bachkiesel. Er war ein mittelmässiger Schüler, der viel Sport trieb. Ich selbst bin keine Sportlernatur. So waren schon damals unsere Kontakte oberflächlich geblieben.
 
An einem Samstag vor etwa 15 Jahren bemerkte er mich über Tischreihen hinweg in einem Café in der Innenstadt und winkte mich an seinen Tisch. Ich setzte mich zu ihm. Die Serviertochter brachte meine Tasse Café herüber. „Deine Frau ist wohl von Weihnachtseinkäufen beschlagnahmt“, meinte ich, nur um etwas zu sagen. „Nein“, antwortete er kopfschüttelnd und fügte hinzu: „Wir sind jetzt geschieden.“ Das ist kein ungewöhnliches Ereignis, dachte ich mir und sagte, wie es sich schickt: „Das tut mir leid“.
 
„Im besten gegenseitigen Einvernehmen haben wir uns zur Scheidung entschieden.“ Hier wäre ich beinahe versucht gewesen, zu sagen: „Das freut mich“. Zögernd fuhr Hermann fort: „Irene ist an Krebs erkrankt … Zum Glück sind keine Kinder da, und sie versteht, dass ich mich in meinen Alter nicht mit einer kranken Frau belasten wollte.“
 
Ich war damals noch ledig. Sein Scheidungsgrund war mir wie ein Stich ins Herz. „Ich kann nur hoffen“, sagte ich, ehe ich mich von ihm verabschiedete, „dass Irene das überlebt.“ Damit blieb verschlüsselt, was ich wirklich dachte. Ich fragte mich nachher, beim Weitergehen: Wie hätte ich an seiner Stelle gehandelt? Ganz gewiss nicht so.
*
Viele Jahre sind seither vergangen. Ich hatte meinen Wohnsitz gewechselt und war verheiratet. Hin und wieder besuchte ich meine Heimatstadt, auch diesmal vor Weihnachten mitsamt der Familie. Der Weihnachtsmarkt hatte meine Kinder ermüdet und mich ebenfalls. Sie verstanden wohl in ihrem zarten Alter, warum ihre Mutter noch in der Stadt zu tun hatte. „Sie wird sich mit uns in einer Stunde oder so im Café beim Marktplatz treffen“, wandte ich mich an die Kinder. Es dauerte ein Weilchen, bis ein Platz für uns frei wurde. Und wer tauchte unverhofft auf? Ja, es war Hermann. Diesmal winkte ich ihn an unseren Tisch. „So ein Zufall! Lange ist es her, seit wir uns zum letzten Mal getroffen haben, ebenfalls während der Adventszeit und erst noch im gleichen Café“, begrüsste ich ihn. Wiewohl Hermann sich ein Lächeln aufzwang, schien er betrübt zu sein.
 
Im Verlauf des Gesprächs tat sich mir auf, wie schlagkräftig das Schicksal mitunter ins Leben eingreifen kann, als wollte es uns eine Lektion erteilen oder warnen. Wer schon ist hellhörig genug, um das zu erfassen? Natürlich hatte Hermann kurz nach der Scheidung wieder geheiratet. Nach einer Leidenszeit von 3 Jahren war Irene gestorben. Er schien sein Glück gefunden zu haben, privat und beruflich. „Leider fehlte nur eines, um unser Glück zu vervollständigen: Kinder …“, sagte er mit belegter Stimme. Vor 2 Monaten war seine 2. Frau tödlich verunglückt. Ein Lastwagen hatte sie vom Fahrrad gerissen. Eben hatten meine Kinder ihre heisse Schokolade ausgetrunken, als meine Frau im Türrahmen erschien. „Ich habe etwas im Mantel gelassen“, erhob ich mich hastig und fing meine Frau ab. „Bitte finde einen Platz auf der anderen Seite“, bat ich sie, „ich erkläre dir nachher warum.“
 
Hermann tat mir Leid. Und was sagte er, als wir uns verabschiedeten: „Vielleicht habe ich beim 3. Mal wieder mehr Glück.“
 
Meine Frau war mit meiner Auslegung des Schicksals nicht einverstanden. „Das Schicksal hat hier versagt und statt ihn, den unverbesserlichen, vom Eigennutz getriebenen Mann, 2 Unschuldsopfer gefordert.“ Dabei lasse ich es bewenden.
 
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