Textatelier
BLOG vom: 06.02.2005

Die unsägliche Mühe mit der Ich-Form

Autor: Walter Hess

Ich habe – ich gebe es unumwunden zu – grosse Mühe, in der Ich-Form zu schreiben; aber zum Glück bin ich noch lernfähig. Dabei ist die 1. Person Einzahl im Prinzip die einzig mögliche Form des Schreibens. Der deutschstämmige Soziologe, Philosoph und Komponist Theodor W. Adorno (1903−1969) sagte einmal: Wir sagen und ich meinen ist eine von den ausgesuchtesten Kränkungen.“

Wenn ich schreibe (oder rede), will ich ja niemanden kränken, sondern meine Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, Beobachtungen, Erkenntnisse ausdrücken und weitergeben. Fast jeder Roman und jede Novelle ist eine Biografie, und jedes andere Schriftstück auch. Es lässt zumindest immer auf den Verfasser, auf seine Denkweise, seine Bildung und seine Befindlichkeiten, schliessen.

Trotz alledem: Was ist nicht alles getan worden, um mir (uns) diese Ich-Form auszutreiben. Ein Ich am Anfang eines Briefes war früher undenkbar, wurde als der Gipfel der Überheblichkeit empfunden, obschon es doch immer ganz eindeutig ein Ich ist, das einen Brief schreibt. Es war verboten, einen Brief so anzufangen: „Ich danke Dir für Deine netten Zeilen.“ Das Ich musste weg: „Danke Dir für Deine Zeilen“„Habe Ihren Brief erhalten“, oder aber der Satz wurde umgedreht: „Für Ihre netten Zeilen danke ich Ihnen.“ Das Ich hatte zurückzutreten; irgendwo gegen das Satzende tolerierte man es noch einigermassen. Man hatte übersehen, was der polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz (1904−1969) schon wusste: „’Ich’ ist kein Hindernis für den Verkehr mit Mitmenschen.“

Im Journalismus galt das Ich-Verbot ebenso; es wurde unbedingt durchgesetzt. Als mir in den ersten Redaktionsjahren beim seligen„Aargauer Tagblatt, AT“ (heute: „Aargauer Zeitung“, AZ) einmal ein Ich in einen Bericht hineingerutscht war, wurde ich vor den Chefredaktor zitiert, der mir darlegte, dass es immer die Zeitung – und nicht etwa ich – sei, die etwas schreibe, auch wenn ich noch nie eine Zeitung gesehen habe, die schreibt; sie liegt bestenfalls einfach zum Lesen herum.

Ich möchte mit dieser Reminiszenz die damaligen Chefredaktoren wie den leider längst verstorbenen, unvergesslichen Dr. Walter Gisiger, den ich noch heute als väterlichen Freund betrachte und an den ich mit Ehrfurcht zurückdenke, keineswegs diskreditieren. Wir hatten ein wunderbares Einvernehmen, und ich habe unendlich vieles von ihm lernen können, was mir noch heute nützlich ist. Es war damals einfach so. Die publizistische Norm. Alle Redaktoren hatten ihr Kürzel; „wh.“ lautete es in meinem Fall. Das wurde zwar im Impressum (Liste der Verantwortlichen) aufgelöst; aber mehr an Preisgabe aus der Intimsphäre lag nicht drin. Selbst wochenlange Abwesenheiten wurden im Impressum wegen der zunehmenden Kriminalität nicht mehr angegeben, um nicht Diebe ins leer stehende Eigenheim zu locken, das ja leicht ausfindig gemacht werden konnte.

Bei Tageszeitungen ist es hinsichtlich der Ich-Form noch heute so. Ich habe am 7. Januar 2005 ins Suchfenster der „NZZ“ die 3 Buchstaben ich eingegeben: „Die Suche nach ‚ich’ ergab keinen Treffer“, lautete die Antwort. Besser sah es bei der erwähnten „AZ“ aus, wobei dort die Ich (es gibt ja keine Mehrzahl davon) vor allem aus persönlichen, in direkter Rede wiedergegebenen Zitaten stammten. In Zeitungsberichten tritt der Berichterstatter praktisch noch immer nicht auf, wie dies in Agenturmeldungen ebenfalls üblich ist (ich habe selber jahrzehntelang Agenturjournalismus betrieben). Es gibt ihn also nicht, den Berichterstatter, sondern nur ein unbekanntes Neutrum, das aus dem Hintergrund heraus formuliert, der Kunst des Ghostwriting ähnlich. Der Ghostwriter wird zum Ich des Auftraggebers; er liefert seine eigene Persönlichkeit an den Auftraggeber ab, mit dem er sich möglichst gut zu identifizieren hat – ein Kunststück sondergleichen, das gewissermassen ein publizistisches Schauspielertalent erfordert.

Es gibt und gab allerdings schon Ausnahmen. Die Schriftstellerin Lislott Pfaff, mit der ich mich über die Ich-Form unterhalten habe, schrieb mir dazu: „Die bekannten amerikanischen Journalisten Truman Capote und Norman Mailer haben Subjektivität, Betroffenheit, das Einbringen der eigenen Person im Journalismus eingeführt und waren damit sehr erfolgreich, wurden deshalb sogar als Belletristiker angesehen. Auch die Statements einer Susan Sontag waren doch ganz klar subjektiv gefärbt. Ich glaube, Journalismus kann sich auf die Länge überhaupt nur auf diese Weise Erfolg verschaffen.“ Soweit das Zitat, dem ich aus Überzeugung zustimme.

Auch der „rasende Reporter“ Egon Erwin Kisch (1845−1948) ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Seinen Bericht „Dem Golem auf der Spur“ begann er so: „Im Fünfzehnerjahr, in den Waldkarpaten, habe ich den Mann gesprochen, der mir zum ersten Male davon gesagt hatte, dass Golem noch vorhanden sei.“ Das ist ein glänzender Anfang. Der Reporter ist dabei, am richtigen Ort, und damit wird die Berichterstattung authentisch, erhält eine hohe Glaubwürdigkeit. Der Leser wird gleich mitgenommen. Und der Reporter Kisch bringt sich durchwegs ein: „Ich trete in eine Nische hinaus, die Türe halb hinter mir schliessend, und schwinge mich auf die eisernen Sprossen, dann ziehe ich die Türe zu, sperre ab und klettere hinunter.“ Der Leser erlebt die Geschehnisse aus der Sicht des Berichterstatters. Hohe Schule.

Ist vielleicht der (fehlende) Mut zur Ich-Form einer der wichtigen Unterschiede zwischen Journalismus und Literatur? Selbstverständlich gewährleistet die Ich-Form noch lange keine Literatur, aber sie kann unter Umständen ein kleiner Beitrag dazu sein.

Das Fernsehen ist heute diesbezüglich weiter als der Journalismus. Ich erinnere mich noch an ein entsprechendes Erlebnis: 1995 wirkte ich an einer SF-DRS-Dokumentarsendung über den Sauberkeitswahn („Hygiene“) und dessen Folgen mit. Der Aufnahmeleiter und Regisseur, Nino Jacusso, machte mich zuerst einmal darauf aufmerksam, ja nicht direkt in die Kamera zu schauen, sonst hätten die Zuschauer das Gefühl, ich würde direkt in ihre Stube eintreten. Heute, 10 Jahre später, schauen alle Moderatoren direkt in die Kamera und damit in die Stuben, weil sie uns persönlich ansprechen wollen. Aber dennoch ist auch dieses Fernsehen noch lange keine Literatur …

In einem Blog, das ich als Tagebuchblatt betrachte, ist die Ich-Form zwingend. Denn es würde ja schliesslich niemand in der 1. Person Mehrzahl ins Tagebuch schreiben, falls die Person über sich selbst (und nicht über eine ganze Gruppe) redet, falls sie also ihre eigenen, persönlichen Erlebnisse festhält. Man kann die Tagebucheintragungen mit den Mitteln des geschriebenen Worts, aber auch durch Fotos und Videos, auf einfache Weise im Internet verbreiten.

Seit Januar 2005 und bis zum 11. Februar 2005 (Finissage) wird von einem Künstler mit dem Pseudonym SISTM eine Blogger-Ausstellung („Incredible Subjects“) in der „Plattform 11 Gallery“ an der Körnerstrasse 11 in CH-8004 Zürich veranstaltet. Sie ist darauf angelegt, die „Vereinsamung von Individuen in der Welt des Web“ anhand von meist fotografischen, aber auch sprachlichen Blog-Fragmenten aus Grossbritannien, den USA und aus Skandinavien zu belegen. Das kann ein Ausdruck einer gestörten Kontaktfähigkeit sein, was immer das sein mag; die moderne Menschheit ist ja ausserordentlich kreativ beim erfinden von psychischen Störungen.

Auf der Webseite zur Ausstellung heisst es: „Schonungslos offen, selbstironisch, in teilweise überraschender literarischer Qualität geben überwiegend junge Menschen aus aller Welt ihre Gedanken und Befindlichkeiten, von banalen Alltagsproblemen bis hin zu existenziellen Lebensfragen, preis.“

Das braucht keine Spezialität der Blogs zu sein, sondern das war in der Literatur schon immer so, wie eingangs erwähnt. Doch hatte bisher nur ein sehr kleiner Teil der Menschen die Gelegenheit, sich öffentlich verbreiten zu können. Und ich weiss nicht, ob das, was uns als „Literatur“ in gedruckter Form überliefert ist und unsere Bücherwände dekoriert, wirklich das Beste von dem war, was geschrieben ist, genauso wie nicht die besten Sänger zu den berühmtesten und erfolgreichsten Schlagerstars werden. Es braucht viele Zufälle, Glück und günstige Umstände, um Zugang zum Rampenlicht zu erhalten. Heute werden Stars gezielt „gemacht“, aufgebaut, und man staunt immer wieder, welche bescheidenen Voraussetzungen dafür in Einzelfällen vorhanden sein müssen.

Der Unterschied zu früheren Zeiten besteht in dieser Moderne darin, dass das Internet eine praktisch unendliche Kapazität hat, um als Publikationsplattform für alle medialen Formen zu dienen. Es ist zwar auch hier unwahrscheinlich, dass das Exzellenteste das beste Ranking erhält und zum „Kult“ wird, doch die Auswahl ist unendlich grösser geworden, und dieser Tatbestand bietet eine gewisse Gewähr dafür, dass die Einschränkungen wenigstens weniger gravierend sind.

Wer um diese Tatbestände weiss und dennoch sein Wissen, seine Gedanken und Gefühle auch im Internet verbreitet (und gern auch Kenntnisse von anderer Seite nutzt), läuft Gefahr, gewissen Verklemmtheiten anheim zu fallen. Oft weiche ich der Ich-Form wahrscheinlich deshalb unbewusst aus, weil ich den Eindruck vermeiden will, es drehe sich alles nur um mich und ich wolle mich ins Schaufenster stellen. Das sind Verkrampfungen, die auch im tatsächlichen und nicht allein im virtuellen Alltag festzustellen sind, selbst bei Unternehmensmanagern.

So habe ich einmal einen Unternehmer, der einen grösseren technischen Betrieb auf die Beine stellte, über die angemessene Informationspolitik beraten. Im Wesentlichen empfahl ich ihm, möglichst breit, möglichst umfassend zu informieren, sich persönlich einzubringen und damit Transparenz, Vertrauen und Bekanntheit für sein Unternehmen zu schaffen. Doch nichts dergleichen geschah, und das Unternehmen serbelt vor sich hin. Viele Menschen verkriechen sich in die Anonymität, wo sie vergessen werden und auf bessere Zeiten warten. Die Lebenskunst, genügend Präsenz zu markieren, ohne unangenehm aufzufallen und aufdringlich zu wirken, kommt immer einer Gratwanderung gleich, bei der man wählen kann, auf welche Seite man abstürzen will. Man trainiere seinen Gleichgewichtssinn!

Jedermann kann aus eigenen Erfahrungen gescheiter werden: Indem ich mir die Ereignisse aus meinem Leben mit den damit verbundenen Folgen noch einmal in Erinnerung rufe und unter Einsatz des angesammelten Wissens auswerte, kann ich überholte Denk- und Verhaltensmuster überwinden. Was hiermit geschehen sei, wenigstens in Bezug auf die Ich-Form ...

Bis ich durch Umstände eines Gescheiteren belehrt werde, erkläre ich mich somit zum Anhänger dieser persönlichen Art des Schreibens, unter anderem in der Hoffnung, einen ganz kleinen Schritt hin zur Literatur getan zu haben… Nicht etwa um des Ruhmes willen, sondern einfach, um die Leserinnen und Leser, die Nutzerinnen und Nutzer mit noch hochwertigeren Texten versorgen zu können.

Ein wichtiges Erfordernis ist die klare, direkte unumwundene und nicht verschlungene Ausdrucksweise. So sagte der damalige US-Präsident John F. Kennedy an jenem 26. Juni 1963 in Berlin auch nicht: „Man fühlt sich in dieser Stadt Berlin wie ein Einheimischer.“ Er sprach diese einprägsamen Worte: „Ich bin ein Berliner!“

In diesem Sinn und Geist: „Ich bin ein Bibersteiner!“

Sie sehen: Es funktioniert und ist ganz einfach.

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