Textatelier
BLOG vom: 23.12.2009

Weihnachtsvogelseuche in England: Truthahn zum Fest

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Haben Sie den Unglücksvogel für den weihnächtlichen Festschmaus schon im Gefrierschrank eingelagert? Einmal im Jahr, am Weihnachtstag, geniessen die Engländer den „turkey“, auf deutsch: Puter, Truthahn. Sie verzehren ihn zuerst heiss und – nach dem Weihnachtstag – kalt bis zum Überdruss, denn der gemästete Truthahn wiegt schwer, „wirft viel ab“ und liegt folglich schwer auch auf dem Magen, tagelang. Katzen machen einen grossen Bogen um den Truthahn, Hunde knurren böse, Kinder plärren. Zu viel des Guten bekommt schlecht.
 
Ich habe schlechte Erinnerungen rund um den Truthahn. Im Boarding House wurde er, in schmale Scheiben geschnitten, aufgetischt. Diese waren ausgetrocknet und erkalteten rasch auf dem Teller. Also her mit dem „horseradish“ (Meerrettich-Sauce) oder „stuffing“ (Füllung), um diese Scheiben herunter zu würgen.
 
Der Truthahn ist ein hässlicher Vogel. Das ist nicht sein Fehler. Sein langer Hals ist rötlich und federlos und mündet in einen gebogenen Schnabel aus. Der Vogelkopf ist viel zu klein für den massiven, vollgemästeten Körper des Truthahns.
 
Bis der Puter aufgetischt werden kann, muss er zuerst aufgetaut werden. Das dauert lang. Etwa gleich lang dauert es, bis die Füllung vorbereitet ist. Gilt es, viele Gäste zu ernähren, braucht es einen gewichtigen Truthahn, sagen wir ein rund 11 kg schweres Exemplar. Der Ofen ist vorgewärmt. Die Hausfrau kriegt ihn leider nicht in den viel zu kleinen Backofen. Der Hausherr muss mit der elektrischen Säge beispringen. Die Kochzeit dauert 4 Stunden, bis der Vogel gar gebraten ist.
 
Ein zerschnittener, nein: zerhackter Truthahn sieht erbärmlich aus, wenn er in der Mitte des Esstischs präsentiert wird. Eine Notlösung bietet sich an: Lasst die Gäste mit Tellern in die Küche antraben und Schlange stehen. Bis alle ihre Portionen mit allen Zutaten auf den Tellern haben, ist das Essen bestenfalls lauwarm geworden. Dank des Weins bleibt die Stimmung der Geladenen vorderhand gelockert. Diese Stimmung wird bald wie das Wetter umschlagen. Der Erbonkel und die Erbtante sind bereits sichtlich verstimmt, weil sie sich in die Warteschlange einreihen mussten.
 
Angenommen, der Truthahn konnte mit einem Schubs in den Backofen gestopft werden, verdienen die zählebigen Erbonkel und Erbtante eine Vorzugsbehandlung, je einen Schenkel. Diese sollten vor dem Ende der Kochzeit vom übrigen Vogel gelöst und auf einer Wärmeplatte warm gehalten werden. Bekanntlich kann nicht durchgebratenes Trutenfleisch lebensgefährlich sein, wegen der Vorgelseuche. Die Gastgeber, von der Wirtschaftskrise arg in die finanzielle Zwickmühle getrieben, wollen rasch erben, und haben dazu einen teuflischen Plan ausgeheckt. Die beiden Schenkel werden ihnen mit viel Pomp unter die Nase gestellt. Wacker geniessen sie ihr letztes Mahl, so wenigstens meinte das erberpichte Paar, ehe sie sich von dieser Welt trennen. Wie lange dauert es, bis sie von der Seuche erwischt werden? Es erwies sich, dass Erbonkel und Erbtante gegen die Vogelseuche gefeit waren. Sie entkamen dem Festschmaus heil, frohgemut und beschwipst.
 
Ich vermerke mit Genugtuung, dass es in dieser heillosen Zeit Geschichten gibt, die gut enden.
 
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