Textatelier
BLOG vom: 22.09.2011

Lebensweisheiten entdeckt, dank Pendüle und Altpapier

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Heute schreibe ich einen doppelbödigen Essay: Zuerst über die Pendüle aus dem Nachlass meines Vaters, gefolgt von Gedanken zu einem altpersischen Manuskript (ebenfalls mit familiärem Bezug), das ich vor 2 Monaten zufällig in einem Stapel von Makulatur entdeckt habe.
*
1. Gedanken zur Pendüle
Die Pendeluhr wurde meinem Vater anlässlich eines Jubiläums geschenkt und tickt heute seit vielen Jahren schon in unserem Wohnzimmer, ausgenommen immer rund um seinen Todestag. Dann steht sie still. Das ist mein Fehler: Ich habe das Werk zu satt aufgezogen und verkrustetes Öl im Federhaus lähmte die Antriebskraft aufs Ankerrad. So musste ich sie wieder einmal in Gang setzen. Für Uhren gilt wie im Leben: Man darf sie und sich selbst nicht zu satt aufziehen, damit der Fortgang eines Werks nicht harzt.
 
Kaum hatte ich die Pendüle in die Klinik gebracht, will besagen auf dem Tisch abgesetzt, entsprang das winzige Stahlstäbchen mitsamt dem federnden Aufhängsel für das Pendel. So musste ich die Kappe des Läutwerks lösen und die Bestandteile aus dem Gehäuse sichern. Ohne die richtigen Bestandteile lässt sich nichts anfangen.
 
Mit der Pinzette verband ich anschliessend das Stäbchen wieder mit der Aufhängevorrichtung und hakte das Pendel ein. Mit dem Zeigefinger stupfte ich das Pendel. Es pendelte eine Minute lang saft- und kraftlos hin und her. Offensichtlich bevorzugte das Pendel seinen Ruhestand. Ausserdem stand die Uhr nicht im Senkel. Ich schubste Karton unter eines der Standbeine. Das Pendel schwang während 2 Minuten hin und her. Immer wieder erneuerte ich die Anstösse mit dem Finger. Ich schuldete es meinem Vater, die Uhr wieder in Gang zu bringen. Nach einer Stunde lockerte sich die Feder etwas, doch nicht ausreichend. Nach 2 Stunden dachte ich voreilig, das Werk gehe endlich wieder und ging mir eine Tasse Kaffee brauen. Natürlich hing das Pendel unbewegt im Gehäuse, als ich mit der Tasse erschien. So machte auch ich eine Pause, denn ich musste Lily mit ihren Einkäufen abholen.
 
Nach der Rückkehr setzte ich erneut meine Operation am bettlägerigen Getriebe fort. Kurz vor dem Nachtessen erholte sich endlich das Werk, dank meiner hartnäckigen Nachhilfe. Doch nach dem Essen war das Pendel schon wieder eingeschlafen. Die Uhr vertrug meine Abwesenheit schlecht. Nur solange ich ihr Gesellschaft leistete, tickte sie. Dennoch tat die Nachtruhe mir und der Pendüle gut. Die Uhr hatte sich durch die Nacht gependelt. Mit Engelsgeduld wird viel erreicht.
 
Ich räumte der Pendüle eine weitere Gnadenfrist von 24 Stunden plus eine zusätzliche Nacht ein. Man darf in seinen Erwartungen nicht vorprellen.
 
Ob es mir gelingt, sie sicher auf den Sockel zu heben? Das wird sich anderntags in aller Herrgottsfrühe weisen. Dann habe ich stete Hände. Nichts mit zitterigen Händen anfassen.
 
Erst diesmal bemerkte ich, dass der Basler Uhrmacher Linn stolz seinen Prägestempel auf das alte, von ihm revidierte französische Uhrwerk aufgedrückt und das mit Blumen und Gold bemalte Goldgehäuse aufgefrischt hatte. Selbst Kleinigkeiten sind es wert, entdeckt zu werden.
*
2. Gedanken zu einem altpersischen Manuskript
Nach einem Todesfall werden viele Wohnungen geräumt. Dabei werden oft Altstoffhändler zugezogen, die anschliessend den Nachlass eines Lebens auf dem Ramschmarkt feilbieten. Auch beim Wohnungswechsel wird vieles verramscht. Ich staune immer wieder, wie selten Händler und auch Privatpersonen ihre Stapel von „Altpapier“, worunter viele sammelwürdige und lesenswerte Bücher, sichten und sortieren.
 
In solchen Papierstössen stöbere ich gern. Man weiss nie, was man finden wird. So auch wieder vor 2 Monaten. Ich traute meinen Augen nicht: Eine persische Manuskriptseite, mitsamt Passepartout, kam zum Vorschein. Sie war sorgfältig in einer Plastikfolie verpackt. Ich kann nur annehmen, dass eine Kunsthandlung brutal und achtlos geräumt worden ist.
 
Dieses tadellos erhaltene Manuskript stammt aus der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts aus dem Folio „Shahnameh“ (Das Buch der Könige) von Hakim Abdol-Ghasem Ferdowsi (935?‒1020). Damit hat Ferdowsi ein heute weltweit bedeutendes episches Meisterwerk mit rund 60 000 Versen im 9. Jahrhundert (für den Sultan Mahmund) geschaffen. Diese Seite aus dem 16. Jahrhundert ist in „nasta’liq“ geschrieben (die von persischen Kaligraphen bevorzugte Schrift), auf goldbestäubtem Papier und mit einer farbig eingerahmten Titelüberschrift in der Blattmitte verziert. Ferdowsi brauchte 30 Jahre, um dieses Werk zu vollenden. Der „Shahmameh” ist in folgende Kapitel untergliedert: 
1.     The Shahs of Old
2.     Feridoun
3.     Zal
4.     Zal and Rudabeh
5.     Rustem
9.     Saiawush
11.   Firoud
16.   Isfendiyar
 
Der Kunsthändler hatte mit seinem Begleittext auf der Rückseite tüchtige Vorarbeit geleistet und mir somit die Spur zu weiteren Recherchen gelegt, unterstützt mit Ergänzungen seitens eines in der Kunst des Islams bewanderten Fachspezialisten des „British Museum“.
 
Auf der Vorderseite stand der Kaufpreis mit £ 45 vermerkt ‒ gewaltig unterbewertet. Ich hob das Blatt hoch und fragte den Händler nach dem Preis. Ohne das Blatt zu begutachten, sagte er: „£ 2.“ Für mich ist dieser Fund einzigartig und preislos.
 
Es galt, für dieses Manuskript einen würdigen Rahmen zu finden. Ich habe viele alte Bilderrahmen an Lager, doch keiner passte. Dann kam die Erleuchtung. Im Salon haben wir eine Gouache von Jean-Gabriel Domergue  attraktiv eingerahmt. Sie hatte die genaue Passform, um diese Kaligraphie aufzunehmen.
 
Das war mein Geburtstagsgeschenk für Lily mit dem Zusatz „im Andenken an deinen Vater“, der ebenfalls wie meiner um diese Jahreszeit gestorben ist.
 
Weitere Texte mit Bezug zu Iran und Afghanistan
04.08.2005: Zur Einsichtnahme: Iran = Persien = Sa’dis Rosengarten
Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein
Fotoblog über den Schönauer Philosophenweg
Rote Bete (Rande), eines der gesündesten Gemüse
Hermann-Löns-Grab im Wacholderhain
Lüneburger Heide: Salzsau und Heidschnucken
Kutschenmuseum in Wiechs ist ein Schmuckstück
Canna verleihen einen Hauch karibisches Flair
Artenreiche Streuobstwiesen stark gefährdet
Liebe zu den Kräutern in die Wiege gelegt
Eine Hütte mit Fleischsuppe im Namen
Rätsel um die Russenbänke in Präg gelöst
Altes Giftbuch entdeckt – Wurde Mozart vergiftet?