Textatelier
BLOG vom: 23.10.2011

Der wiederkehrende Traum: konfuser Wunschtraum?

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Dieser Traum, den ich Hermann zuschreibe, wiederholte sich mit kleinen Abweichungen. Sigmund Freud hin oder her, Traumdeutereien sind schwierig.
 
1.Teil: Die Suche
Hermann entdeckte in seinem Traum ein von Bäumen umzingeltes, langgestrecktes Gebäude, das er zuvor nicht bemerkt hatte. Neugierig, wie er war, wollte er es aufsuchen. Es lag auf einer Anhöhe in der Altstadt. Dieser Stadtteil glich dem Basler Nadelberg, der unweit des Martkplatzes steil ansteigt und sich in mehrere Altstadtstrassen verzweigt. Zuerst erklomm Hermann Treppen zum Lohnhof, aber fand das Gebäude nicht. Vielleicht lag es hinter einer hohen Mauer versteckt, dachte er. Er setzte seine Suche in verschiedenen Richtungen fort, doch umsonst. Er zog schliesslich den Glockenzug eines Patrizierhauses. Ein in rot/blauer Uniform gekleideter, bärtiger und würdiger Mann erschien im Türrahmen. Er konnte Hermann keine Auskunft geben. „Wenn dieses mysteriöse Haus überhaupt besteht, ist es möglich, dass es hinter der Pforte 3 Häuser weiter versteckt ist.“ Dort kommen und gehen Leute hin und wieder durch die Pforte. Eine Spur war wenigstens gesichert. Hohe Tannen reckten sich hinter der Pforte in die Höhe. Ganz in der Nähe bezog Hermann eine öffentliche Sitzbank. Der Tag war sonnig und warm, und Hermann vertrieb sich die Wartezeit mit dem Skizzieren der winkligen Altstadthäuser.
 
Nach etwa 2 Stunden trat eine ältere Dame aus der Pforte. Artig wiederholte Hermann seine Frage nach dem vom Marktplatz aus sichtbaren langgezogenen Hausgiebel. „Wenn es ein solches Haus geben sollte“, kehrte sie die Frage um, „mögen Sie mir sagen, was Sie dort zu finden erhoffen.“
 
Hermann zeigte ihr seine Häuserskizzen und sagte: „Ich suche einen malerischen und versteckten Winkel.“
 
„So, so“, entgegnete sie gedehnt und fügte nach langem Zögern hinzu: „In dem von Ihnen gesuchten Haus ist ein eigenständiger Lehrstuhl eingerichtet, ausserhalb der Universität und kann nicht von Laien besucht werden.“
 
„Woraus schliessen Sie, dass ich ein Laie bin?“ wollte Hermann wissen.
 
„Ihre Skizzen sind zwar ganz nett, doch in der Art eines begabten Dilettanten,” sagte sie sanft schmunzelnd und schickte sich zum Weitergehen an.
 
„Nur noch einen kurzen Augenblick, bitte!“ bat er sie.
Sie wandte sich um, und hastig sagte Hermann: „Ich glaube, ich habe andere und bessere Fähigkeiten und möchte um eine Audienz bitten …“
 
Eine Audienz?“ Kennen Sie die Bilder von Hieronymus Bosch?“
 
Hermann brauchte nicht zu lügen und nannte rasch eine Reihe der Symbole in Hieronymus Boschs rätselhaften Gemälden und bezog sich dabei auf Ludwig Baldass. „War Hieronymus mit den Rosenkreuzern verbunden?“
 
Die Dame muckte auf: „Was ist in Ihnen versteckt?“
 
„Ein Freigeist“, antwortete Hermann kühn.
 
„Im Versteck gibt es keinen Freigeist“, wies sie ihn zurecht und ging kopfschüttelnd weiter. Aber sie hatte seine Bitte um Audienz nicht rundweg ausgeschlagen.
 
Das war alles recht konfus, wie es Träumen eigen ist. 
 
2. Teil: Der 1. Besuch
Tage verstrichen, ehe Hermann beschloss, die Pforte wieder aufzusuchen. Es war wie verhext: Er fand die Pforte nicht, so hartnäckig er auch den Nadelberg durchstreifte. Dieser Traum wiederholte sich immer wieder, und weil er die Pforte nicht fand, blieb Hermann im Traum stecken. So ergeht es einem, wenn man träumt und den Faden verliert, dachte er. Sogar das Patrizierhaus konnte er nicht mehr finden. Hermanns Traum aber hatte sich in ihm stärker als alle Wirklichkeit verankert und liess ihn nicht los. Schliesslich wusste er keinen besseren Rat, als „wer sucht, der findet“. Als er eines Tages den Kohlenberg hochging, begegnete er unverhofft wieder der Dame.
 
„So fügt es sich ohne Ihr Zutun“, erkannte sie ihn sofort wieder. „Klopfen Sie an der Pforte.“ Sie nannte sie ihm den Tag und die Stunde zum Besuch. „Diesmal werden Sie die Pforte nicht verfehlen.“
 
Tatsächlich fand er die Pforte mühelos auf einem Seitenpfad und klopfte an. Die Türe öffnete sich, wie von unsichtbarer Hand gezogen. Die Bäume warfen Schatten über den langen Gebäudetrakt. Eine offene Seitentüre lockte ihn ins Gebäude. Der lange Korridor war halbdunkel, von spärlichem Licht durchrieselt. Niemand kam ihm entgegen. Auf der rechten Seite war die Bibliothek voller alten Folianten. Auf der linken reihten sich Arbeitsräume aneinander. Er bemerkte die wuchtigen Eichentische und Leute, die sich in langen, weissen Arbeitsschürzen in den Räumen bewegten und ihm da und dort freundlich zunickten, als sei er ein alter Bekannter. Im Vorbeigehen reichte ihm eine junge Frau eine weisse Schürze, mit dem Hinweis: „Ihre Arbeitsschürze.“
 
Welche Arbeit erwartete ihn? Besser keine dummen Fragen stellen, beschloss Hermann, und er ging langsam weiter. Am Ende des Korridors öffnete er eine Verbindungstüre und fand sich in einem hellen, kreisrunden Raum unter einer Kuppel. Tageslicht flutete durch die Glasverschalung. Unterhalb der Kuppel war eine Galerie. Beim Fenster setzte sich Hermann in einen altmodischen Ledersessel und vertiefte sich in sein Skizzenbuch, abwartend, was es mit seinem Besuch auf sich hatte.
 
Hermann wurde von der gleichen älteren Dame, die sich als Rektorin des Instituts vorstellte, und von 2 „Akademikern“, Gustav und Tobias, begleitet. „Sie sind durch die Vergangenheit mit alten Schriften zur Gegenwart gelangt“, sagte die Rektorin – „bitte nennen Sie mich einfach ,Adele'“, fügte sie hinzu. Gustav wies gegen die Ecke: „Hier haben wir sogar eine Kaffeemaschine.“ „Mit oder ohne Zucker, mit Milch?“ fragte er ihn.
 
„Zur Sache, das steht Ihnen ins Gesicht geschrieben“, las Gustav Hermanns Gedanken und stellte die Tasse vor ihm ab. Damit meine ich nicht die Tasse …“
 
„Sondern …?” fragte Hermann neugierig.
 
„Zuerst möchten wir Sie schrittweise mit den Aufgaben des Instituts vertraut machen. Und das braucht Zeit und bedingt, dass Sie, so Sie wollen, sich bei uns einleben,“ übernahm Adele das Wort.
 
„Und Sie wissen nicht einmal, wer ich bin!“ gab Hermann zu bedenken.
 
Lassen Sie sich nicht täuschen“, tippte sie gegen ihre Nasenspitze, „‚Intuition’ gilt hier etwas. Ich wusste gleich, als Sie mich zum 1. Mal ansprachen, dass Sie gewisse Fähigkeiten haben.“
 
„So wurde ich nicht bespitzelt,“ sagte Hermann erleichtert.
„Hier wird niemand bespitzelt, weder von uns noch anderen Instanzen.“
 
„Wir brauchen einen Chronisten unserer Tätigkeit, über die Sie bald mehr erfahren werden“, meldete sich diesmal Tobias und fügte hinzu: „Wer weiss, ein Wunschtraum könnte sich für Sie erfüllen.“
 
Das alles empfand Hermann als sehr geheimnisvoll, aber enthielt sich weiterer Fragen. Eine Seifenblase mehr oder weniger in seinen Wunschträumen spielte für Hermann keine Rolle mehr. Zu viele waren geplatzt. Er war gegen Wunderglauben gefeit. So hörte er sich ihren Vorschlag an, wonach er als Gast hier hausen sollte, in einer Wohnstube mit Bett, in einem Zimmer in der Galerie. „Dort haben Sie alle Ruhe zum Denken und Schreiben,“ sagte Adele, das 1. kurze Gespräch beschliessend.
 
„Das habe ich mir schon immer gewünscht“, antwortete Hermann mit ironischem Unterton, „solange ich hier nicht eingekerkert werde.“
 
Immerhin wusste Hermann, dass er ausersehen war, eine Chronik über das Institut Der guten Hoffnung zu verfassen, sofern er der Einladung folgen und sich über die dazu benötigten Fähigkeiten ausweisen würde.
 
Das junge Fräulein, Agnes hiess sie, kam und nahm ihm seine Arbeitsschürze ab. Hermann erfuhr, dass Agnes die Haushälterin und erst noch die Archivarin des Instituts war. Der Tag und die Stunde des nächsten Treffens wurden vereinbart. Diesmal wurde Hermann zur Pforte begleitet.
 
3. Teil: Hermanns Geständnis
Hermanns Traum geschah wirklich so, wie im 1.Teil („Die Suche“) beschrieben. Ob er auf dem Nadelberg stattfand, bleibe jedoch dahingestellt. Damit war der Ansatz zum Fortspinnen des Traums geschaffen. In der Vorgrabesstille, nachts, schlief Hermann nicht, sondern erweiterte das Traumgefüge mit Beihilfe der Fantasie. Dabei versetzte er sich in ein jüngeres Lebensalter.
 
In der Jugend ist das Lebensgefühl viel intensiver als im Alter. Das Herz ist entflammt und keine verflackernde Sparflamme. Genau das, was ihm der Alltag in jungen Jahren vorenthielt, wollte er aus dem Boden seiner einstigen unerfüllten Hoffnungen abgewinnen. Das kommt einer Eskapade gleich, weit weg vom nüchternen Alltag, der ihn damals einkesselte. Die Saat seiner Gedanken ging auf. Es gilt jetzt, diese Saat mit der Kraft seiner Vorstellung zu pflegen und den jugendlichen Elan aufleben zu lassen.
 
Hermann stellte sich die Frage: Handelt es sich beim Institut der Hoffnung um einen esoterischen Bund? Er selbst hatte wenig für geheimnisumwitterte Esoterik übrig, und schon gar nicht, wenn sie sich in der Geschichte einschleicht, wie etwa in der Bibelgeschichte.
 
Viele Maler sind von der Esoterik angehaucht und vom Weihrauch der Mystik, mit seinen Symbolen, betäubt und verführt, worunter der englische Maler William Blakeund der Schweizer Maler Heinrich Füseli. Gleiches widerfuhr vielen Schiftstellern, und sie äusserten sich vornehmlich in ihrer Poesie.
 
Hieronymus Boschs Selbstbildnis (in der Bibliothek von Arras) zeigt ihn mit den kantig nüchternen Gesichtszügen eines Kritikers seiner Zeit. Sein hochgeknöpfter Wams verstärkt diesen Eindruck. Hermann erinnerte sich wohl seiner unverwirklichten Absicht, eine eigene Einschätzung dieses Malers zu verfassen. Er werde bald darüber mehr Gewissheit im Institut finden, mutmasste er. Ein anderes Selbstbildnis, diesmal des alternden Anthonis van Dyck (ein Meisterwerk), zeigt dessen von Lebenserfahrung geätztes Gesicht und schien Hermann wesensverwandt mit jenem von Hieronymus Bosch.
 
Um Hermanns Exkurs abzurunden, bevorzugte er die Kritiker ihrer Zeit, wie William Hogarth und Honoré Daumier und bedauerte, dass es heute an solchen hellwachen zeitkritischen Beobachtern mangelt.
 
Damit glaubte sich Hermann vorbereitet für seinen 2. Besuch „Zur guten Hoffnung“.
 
4. Teil: Der 2. Besuch
Auf dem in keiner Stadtkarte eingezeichneten Fusspfad schritt er über alte, als Tritte gelegte Grabplatten hoch. Agnes öffnete die Türe. Sie gefiel dem jungen Hermann, und er bemerkte ihre wohlgeformten Waden, wie sie ihm zum Raum unter Kuppel voranging.
 
Diesmal kam es zur vertieften gegenseitigen Vorstellung mit einer Gruppe der Eminenz des Instituts. Hermanns Frage zum Thema Esoterik erweckte Heiterkeit. „Hier haben Sie Ihren Hieronymus“, deutete die Rektorin Adele auf einen bärtigen stämmigen Mann, der ihm versicherte, dass es hier im Institut um den Wahrgehalt, soweit ermittelbar, gehe. Dabei müsse mit vielen irrigen und verkrusteten Vorstellungen aufgeräumt werden.
 
„Wie Sie die Chronik anpacken, ist Ihnen freigestellt“, lenkte Tobias das Gespräch auf Hermanns Chronistenrolle. „Sie werden in keiner Weise bevormundet. Nur einen Grundsatz gilt es zu beachten: Die Geschichte, gleich welcher Vergangenheit, sollte idealerweise in die Gegenwart münden und ihre Relevanz in der Welt, wie sie sich heute darbietet, erweisen. Die meisten Historiker übersehen diesen Grundsatz und bleiben in der Vergangenheit kleben.“
 
Hermann war mit dieser Wegweisung zufrieden. Er hatte sich immer bemüht, zeitnah zu bleiben, bestärkt in seiner Hoffnung, dass sich die guten Sitten und Weisheiten unserer Vorväter im Einklang mit der Zeit erneuern lassen. Die verderblichen Bräuche, Akte der Gewalt und Verbrechen gegen die Menschen mitsamt der Verschandelung der Umwelt, gilt es zu drosseln. Hermann war sich bewusst, dass sich die Welt nicht umkrempeln lässt. Doch gilt es, jeden noch so kleinen Fortschritt zu preisen. Freiheitskämpfer, wie Mahatma Gandhi und Martin Luther King gelten als Schrittmacher des erfolgreichen, gewaltlosen Widerstands. Es tat Hermann gut und wärmte sein Herz, dass er dieses Bekenntnis endlich im Kreis Gleichgesinnter ablegen konnte.
 
Agnes erhob sich und öffnete den Nebenraum und lud zum Mittagsmahl. „Wie Sie sehen, sind wir sind keine Asketen“, sagte der wohlbeleibte Gustav“, wie er sich neben Hermann setzte.
 
„Ja, gute Gedanken müssen gefüttert werden“, pflichtete Hermann mit dem pfiffigen Zusatz bei:"Mahlzeit steht Ihnen ins Gesicht geschrieben."
 
Der Nachmittag galt der reichhaltigen Bibliothek unter Agnes’ kundiger Führung. Auch die IT hatte dort ihren Platz, mit allem Drum und Dran. Die Rektorin erklärte anschliessend die Grundlage des Instituts als gemeinnützige „Non-Profit“-Organisation, von Mäzenen getragen, worunter die „Alte Garde“. „Ein Stipendium für den Chronisten ist eingerichtet,“ fügte sie hinzu und reichte ihm einen Umschlag mit den Konditionen.
 
Ob er der 1. Anwärter für diesen Posten sei, wollte Hermann wissen. „Nein, der 10. aus aller Welt“, bekam er als Antwort.
 
Epilog
So hatte sich Hermann in seinen nächtlichen Wunschträumen etwas zurecht geträumt und dabei ganz vergessen, dass er diesen Wunschtraum längst schon verwirklicht hatte. Er erübrigte sich ganz und gar, hatte er doch in seiner eigenen Bude unter der Dachschräge gefunden, was er suchte: Ruhe zum Denken, umringt von Gleichgesinnten im Paradies der Künste … Hinzu kommen Freunde, die im gleichen Boot eingeschifft sind.
 
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