Textatelier
BLOG vom: 10.12.2011

Wie man in England spricht: Klippen und Nationaldünkel

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Den weitaus grössten Teil meines Lebens habe ich in England verbracht, genauer in London, immer wieder unterbrochen von kurzen Aufenthalten ausserhalb dieses Landes: geschäftlich oder ferienhalber in der Schweiz, Frankreich, Deutschland, Belgien, Italien, Spanien, Griechenland usw.
 
Vorgestern schilderte eine liebe englische Bekannte ihr verlängertes Wochenende in Südengland zusammen mit ihrem Mann und zeigte uns die Fotos der wunderbaren Glasfenster von Marc Chagall in der kleinen „All Saints“-Kirche in Tudely, unweit von Tonbridge. Sie beschrieb auch ihre Ausflüge in Schottland und nannte Orte und kleine Inseln, von denen wir nie gehört haben, wiederum von ansprechenden Fotos dokumentiert.
 
Warum haben wir solche Sehenswürdigkeiten links liegen gelassen? Warum? Ich kann es nicht begründen, ausser vielleicht mit der vagen und irrigen Ausrede, dass es auf der anderen Seite des Ärmelkanals mehr zu würdigen gäbe als in England, in einer Ambiance, die uns vertraut ist. Das wollen wir nächstes Jahr wettmachen, beschlossen Lily und ich, gleichgültig, ob es regnet oder windet, was bekanntlich in England oft der Fall ist.
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Diesem Drang nach überfälligen Exkursionen in England folgt hier ein anderer Exkurs: Als Auslandschweizer ist mir meine Heimat am nächsten meines Herzens geblieben, trotz der Entfernung, die an und für sich von kurzer Distanz und heute leichter denn je überbrückbar ist, selbst mit dem Zug, dem Eurostar. Gewiss kennen wir viele gebürtige Engländer, doch der grösste Teil unserer Bekannten und Freunde haben sich aus allen Weltteilen in der Londoner Kosmopole sesshaft gemacht. Rassenschranken fallen hin. Im Gegensatz zu den eingefleischten Engländern sind Ausländer vertrauter mit kulturellen Unterschieden und sprechen meistens mehrere Sprachen. Allgemein sind sie aufgeschlossener, empfänglicher und aufnahmefähiger als der typische Engländer für Sitten und Bräuche anderswo.
 
Das ist der springende Punkt: die Sprachschranken, die wir leicht überflügeln können, im Gegensatz zum Durchschnittsengländer. Diese Schranken behindern immer wieder den kulturellen Austausch. Der „insulare“ Engländer, trotz seines geschichtlichen Imperiums, bleibt vorwiegend mit seinen Vorurteilen behaftet und glaubt sich über andere Völker erhaben. Nationaldünkel also, der auch in vielen anderen Ländern endemisch ist, selbst in der Schweiz.
 
Die Engländer verkehren am liebsten unter sich. Als sie in Indien herrschten, versahen die Einheimischen die Rolle des Dienstpersonals. Das hat sich seither gewaltig verändert! Indien und China gewinnen die Oberherrschaft auf Kosten der Anglosachsen. „Tit for tat“ – Gleiches wurde mit Gleichem vergolten.
 
Alte Vorurteile blitzen immer wieder auf, wenn sich ein Engländer über seine französischen Nachbarn und ihren Lebensstil äussert, selbst wenn sie in ihren neuen „Kolonien“ in der Dordogne oder Südfrankreich leben. Für die Engländer sind die Franzosen „Frogs“ (Frösche); „Roastbeef“ nennen die Franzosen die Engländer. Tit for tat.
 
Damit kapseln sich die Nationen ab und verkehren mit ihren eigenen Landsleuten. Sie bemühen sich kaum, die Sprache ihres Gastlands zu erlernen. Ausnahmen vorbehalten, kommt es folglich selten vor, dass Engländer Anschluss an französische Familien gewinnen. Leider ist es in England nach wie vor mit dem Fremdsprachenunterricht übel bestellt.
 
Einwanderer aus Pakistan oder Indien erlernen rasch die Sprache ihres Gastlands; sie ist unentbehrlich, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Fremdarbeiter aus Osteuropa müssen sich ebenfalls über ein akzeptables Englisch ausweisen. Zu Hause sprechen sie weiterhin ihre angeborene Sprache und sind dadurch mehrsprachig. Diese Mehrsprachigkeit verliert sich in der 2. oder 3. Generation. Ihre Nachkommen haben sich voll und ganz in England eingebürgert und die englische Nationalität angenommen. Ihre berufliche Expansion als Ärzte, Anwälte und Geschäftsleute nötigt Respekt ab.
 
Unsere eigenen Söhne haben englische Schulen und Universitäten besucht. Sie verstehen meinen Schweizer Dialekt kaum, noch Farsi, die Sprache meiner Frau – ausser in Bruchstücken. Zwar haben sie die A-Level Prüfungen in Deutsch und Französisch bestanden, aber es fehlt ihnen an der sprachlichen Übung, die sich am leichtestens im Sprachraum vertiefen und erweitern lässt. Unser Brauch, wenigsten während der Mahlzeiten französisch zu sprechen, verlor sich innerhalb eines Jahres. Als Eltern hätten wir darauf beharren sollen. Das ist unser Fehler.
 
Als Schweizer, Holländer, Skandinavier oder besonders als Amerikaner oder Australier findet man leicht Anschluss in der englischen Gesellschaft. Bei den wenigsten regt sich der Wunsch, ihren Pass gegen einen britischen auszutauschen. Wozu auch?
 
So bleibt und ist die Sprache der Schlüssel, um fremde Kulturen kennen und schätzen zu lernen – über den Speisezettel und Rassenschranken hinweg. Die Neugier „stupft“ förmlich dazu (fordert dazu auf).
 
Das ist ein Grund, weshalb meine Familie, auch ich, Reisebüros meiden. Wir wollen unabhängig neue Eindrücke gewinnen, von keinem Reiseleiter vorbestimmt. So ist dieser Exkurs wieder bei den Exkursionen angelangt.
 
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