Textatelier
BLOG vom: 08.01.2012

„En attendant“: Ausgelaugt an der Mondsichel hängend

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Dort hänge ich gegenwärtig, über dem abgrundtiefen Nichts. Der Gedanken-Nachschub fehlt mir, und ich fühle mich ausgelaugt. Man kann doch nur schreiben, wenn man Gedanken im Kopf hat, die sich in Worte fassen lassen. „Nachdem alles gesagt ist, ist nichts gesagt“. Was wollte ich mit diesem absurden Aphorismus sagen?
 
Ganz langsam senkt sich die Mondsichel am Horizont und verschwindet hinter den Wolkenkratzern in London. Ich nehme an, dass sie sich in der Schweiz hinter den Bergen verzieht. Wenn der Mond am kleinsten ist, beginnt er zu wachsen und wird zum Vollmond. Aber so lange kann ich nicht tatenlos an der Sichel hängen bleiben.
 
„Nachdem alles gesagt ist, muss das Gesagte neu gefasst werden“. Alte Erkenntnisse der Menschen werden durch die Geschichte immer wieder neu gestaltet und wie ein Massanzug auf die Gegenwart zugeschnitten. Und dieser Anpassungsprozess muss immer wieder erneuert werden. Aber mit welchen Mitteln? Wo ist der Apotheker, der sie mir verkaufen kann?
 
Warum habe ich für so vieles so wenig übrig? Ich bin froh, dass mich, der ich an der Mondsichel hänge, kein Telefon erreicht. Die Anrufe mögen durch den Äther flitzen, aber ich kann den Hörer nicht abheben; sonst stürzte ich ins Belanglose ab. Dort, hoch oben, werde ich auch von der Nachrichtenflut verschont, die mit wenig Wissenswertem aufwartet.
 
„En attendant“ – also abwartend – gelang es mir, mich auf die Mondsichel aufzuschwingen. Dort lag ich, wie in einer Hängematte geborgen. Das Licht der Mondsichel war zum Lesen ausreichend. Mein Vorgänger hatte dort eine zerknüllte Geschichte von Marcel Aymé (1902‒1967) hinterlassen. Sie trug den Titel „En attendant“.
 
Ich las, dass sich 14 Leute zum Freundeskreis zusammengetan hatten, worunter ein Greis, der aus seinem Leben berichtete, immer von Geldsorgen geplagt. Kurzfristig verbesserte sich sein Verdienst als Verkäufer. Er kaufte seiner Frau einen weissen Fuchspelz. Damit hatte er ihr eine riesige Freude bereitet. Sie trug den Pelz sehr selten und bewahrte ihn in einer Kartonschachtel auf. Einmal pro Woche lüftete sie ihn. (Der weitere Verlauf der Geschichte kann leicht aufgefunden und nachgelesen werden.)
 
Ich bin ihm und seinen Freunden im Leben immer wieder begegnet. Darüber kann ich erzählen! Mein Gedankenfach ist frisch aufgefüllt.
 
Frisch beschwingt entspringe ich meiner Hängematte. Mein Dasein hat wieder an Sinn gewonnen.
 
Hinweis auf weitere Feuilletons von Emil Baschnonga
Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein
Fotoblog über den Schönauer Philosophenweg
Rote Bete (Rande), eines der gesündesten Gemüse
Hermann-Löns-Grab im Wacholderhain
Lüneburger Heide: Salzsau und Heidschnucken
Kutschenmuseum in Wiechs ist ein Schmuckstück
Canna verleihen einen Hauch karibisches Flair
Artenreiche Streuobstwiesen stark gefährdet
Liebe zu den Kräutern in die Wiege gelegt
Eine Hütte mit Fleischsuppe im Namen
Rätsel um die Russenbänke in Präg gelöst
Altes Giftbuch entdeckt – Wurde Mozart vergiftet?