Textatelier
BLOG vom: 25.02.2012

Das Leben in Wimbledon Village – die letzten 40 Jahre

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Seit 1971 leben wir im Londoner Vorort Wimbledon Village. Was sich während dieser langen Zeitspanne alles verändert hat! Ein bisschen Nostalgie meinerseits mag für ein Vergleichsbild zwischen damals und heute angebracht sein.
 
Wir bezogen unsere Wohnung im obersten Stockwerk eines geräumigen Hauses – Baujahr 1926. Die altmodischen Fenster klapperten beim geringsten Wind, und kalte Winterluft drang durch die Ritzen. Die Zentralheizung funktionierte schlecht. Die Teppiche, die wir aus Zürich mitgenommen hatten, wurden über die bestehenden Teppiche gespannt. Das verminderte den Durchzug von den Dielen aufwärts. Die Fenster wurden erneuert, die Wände neu tapeziert.
 
Andere Häuser entlang Parkside Gardens wurden in Wohnungen unterteilt. Der Unterhalt der alten Häuser, auf grossen Grundstücken erbaut, war für viele Familien zu kostspielig geworden. Ray Trevillion, ein hilfsbereiter Engländer, installierte einen neuen Kochherd und eine Waschmaschine. Nach der Geburt unseres 2. Sohns mussten wir den unbenutzten Estrich in 2. Etappen ausbauen. Ray war ein Tausendsassa und übernahm den Ausbau. Für ihn gab es kein Problem, das er nicht lösen konnte. Einige der Wasserzisternen seilte er durch die Fenster ab, einige verlegte er unter die Dachschräge. So gewannen wir viel zusätzlichen Wohnraum und fühlten uns behaglich. Durch die Schrägfenster ernteten wir Sonneneinfall durch alle Tageszeiten. Und prasselte ein Gewitter los, genossen wir den Anblick des Wasserschleiers auf den Fensterflächen. Munter gurgelte das Wasser von den Dachkänneln durch die Abläufe. Einige Starenpaare lebten bei uns in Untermiete unter den Dachvorsprüngen. Wir lebten im 3. Stock auf Baumhöhe, wo im Frühling die Amseln jubilierten und der Wind geheimnisvoll durch die Blätter der Birken und Pappeln auf der Rückseite der Wohnung rauschte.
 
Genau uns gegenüber war ein arg verwildertes Grundstück, worin ein kleines Backsteinhäuschen im Dornröschenschlaf meine Blicke aus dem Küchenfenster bannte. „Das wäre doch schön!“ dachte ich und träumte von einem Garten mit Spielwiese für die Kinder. Dem Besitzer dieses Grundstücks wurde die Baubewilligung in diesem geschützten Teil von Wimbledon Parkside verweigert. Ich konnte es direkt ohne Grundstückmakler vom Besitzer billig erwerben.
 
Jeden Abend nach Arbeitsschluss begann ich, einige Quadratmeter von den hoch aufgeschossenen Brennnesseln und Brombeeren zu befreien. Im Backsteinhäuschen richtete ich mein Büro ein, wiederum von Ray unterstützt. Ich kündigte meine Stelle und machte mich als Berater selbstständig. Einige meiner Kunden hielten mir die Treue und sicherten mein Auskommen. Vor 12 Jahren gewann ich nach verschiedenen Anläufen die Baubewilligung. Das Häuschen wurde zum Haus ausgebaut. Dort leben wir heute. Immer wieder danke ich zwar nicht Gott, doch dem gütigen Geschick für diese Oase. Jetzt sitze ich im oberen Stock und schreibe in meiner Bude diese Retrospektive.
*
Wimbledon Village hat sich in den letzten 10 Jahren gewaltig verändert. Im „Dörfchen“ auf der Anhöhe gibt es keine Metzgerei mehr. Die Gemüsehändler sind ausgezogen. Auch das lokale Postbüro wurde vor einem Jahr geschlossen. Die Ladenmiete ist für kleine, unabhängige Detailgeschäfte unerschwinglich geworden, ausser für Restaurants, Modegeschäfte und natürlich „Estate Agents“. Während die Rezession in anderen Teilen von London immer tiefer beisst, leben die Bewohner von Wimbledon weiterhin und immer ostentativer auf grossem Fuss.
 
Die Gleichmacherei und Grossmannsucht in unserer Strasse wird auf die Spitze getrieben. Alte Häuser werden durch neue und immer grössere Luxusgebäude als Einfamilienbesitz ersetzt. Dienstpersonal wird angestellt. Gärtner werden von Landschaftsarchitekten ersetzt. Innendekorateure gestalten die Räumlichkeiten. Ein Haus ums andere wird tief und immer tiefer unterkellert und mit Schwimmanlagen, Heimkinos und Hobbyräumen aller Art ausgerüstet. Hinzu kommen unterirdische Garagen für 3 oder 4 Autos. Je grösser und teurer die Kaleschen, desto besser. Es gilt, die Nachbarn zu beeindrucken. Anwälte und Bankdirektoren haben sich in unserer Strasse pompös eingenistet. Eingenistet? Nein, kaum macht sich ihre Investition bezahlt, ziehen sie aus und wechseln in noch grössere Besitztümer auf dem Land über. Sie werden zu Grossgrundbesitzern, mit Stallungen für Rennpferde und getrennten Unterkünften fürs Personal. Gleichzeitig unterhalten sie ein teures Appartement in London fürs Wochenende und eine Villa im Süden.
 
Alles dreht sich wie ein Karussell einzig ums Geld und um Statussymbole. In unserer Strasse ist ein neues Getto für die Superreichen entstanden, die anonym aneinander vorbeileben.
 
Noch haben wir einige gute Nachbarn, die wir seit Jahren kennen und mit denen wir wenigstens im Vorbeigehen Grüsse und Worte wechseln. Wir pflegen unseren Bekanntenkreis und haben Gesprächsstoff, der nicht in Immobilienwerten und anderen Sachwerten festgefroren ist. Die Boni der Grossverdiener werden nach und nach eingedämmt und die Steuern erhöht. Das Word Ethik wird wiederentdeckt. So sind wir die eigentlichen Gewinner, wo kulturelle Werte noch etwas gelten.
 
Während sich die Finanzkrise verschärft, scheint mir, dass mit der Zeit Wimbledon wieder annähernd das werden wird, was es einst gewesen ist. Die Wegstrecke zur Vernunft ist bekanntlich lang. Aber das beschwert uns nicht, weil wir weiterhin auf unsere Art selig werden und Mass halten.
 
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