Textatelier
BLOG vom: 15.01.2013

Sprache hinter Sprache: Das vergiftete Arbeitszeugnis

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
So richtig wohl gefühlt hat sich H. nie in der Firma. Mit der Kollegialität war es nicht sehr weit her, dachte er. Mit dem Chef war er zurechtgekommen, mehr aber auch nicht. Manchmal hat er gedacht, eine empfindlichere Seele als er würde manches Verhalten der Kollegen als Mobbing bezeichnen. Jedenfalls fand er, es sei nicht weit davon entfernt. Als er gemerkt hatte, dass er wohl kaum Chancen hatte, eine höhere Position zu erreichen, die Arbeit zur Routine wurde und ihn allmählich langweilte, entschloss er sich, etwas anderes zu suchen.
 
Ein Stellenangebot sprach ihn an. Er bewarb sich und wurde zu einem Gespräch eingeladen. Danach bot man ihm die Stelle an. Das Gehalt war nicht viel höher als sein vorheriges, aber er sah die Stelle als Herausforderung an; denn man stellte ihm auch eine Karriere in der Firma in Aussicht.
 
Er unterschrieb den Vertrag und kündigte. Er hatte 6 Wochen Kündigungsfrist. Die letzten Wochen versetzte man ihn in die Registratur. Er nahm das hin, weil er wusste, dass die üblich ist. Es war die Angst davor, dass Abgänger Kunden „mitnehmen“ könnten.
 
In seinem Kündigungsschreiben bat er um die rasche Ausfertigung eines Arbeitszeugnisses.
 
Nach 2 Wochen hatte er ein Schreiben der Personalabteilung in seinem Postfach.
 
Arbeitszeugnis 
Herr Helmut H. verlässt unser Unternehmen aus eigenem Wunsch.
 
Herr H. war Sachbearbeiter in der Marketingabteilung und bearbeitete die (vermeintlichen) Reklamationen der Kunden. Er hat nach Kräften versucht, die Leistungen zu erbringen, die wir an diesem Arbeitsplatz für erforderlich halten. Er zeigte für seine Arbeit Verständnis und Interesse. Er verfügte über Fachwissen und hat ein gesundes Selbstvertrauen. Er war sehr tüchtig und wusste sich gut zu verkaufen. Er hat alle Arbeiten pflichtbewusst ordentlich erledigt. Er war stets um ein gutes Verhältnis zu Kollegen und Vorgesetzten bemüht. Seine Auffassungen wusste er intensiv zu vertreten. Herr H. zeichnete sich insbesondere dadurch aus, dass er viele Verbesserungsvorschläge zur Arbeitsvereinfachung einreichte. Er hat alle Arbeiten ordnungsgemäss und mit grossem Fleiss und Interesse erledigt. Wir bestätigen gerne, dass Herr H. mit Fleiss, Ehrlichkeit und Pünktlichkeit an seine Aufgaben herangegangen ist. Für die Belange der Belegschaft bewies er stets Einfühlungsvermögen.
 
Unsere besten Wünsche begleiten ihn. Wir wünschen ihm für die Zukunft alles nur erdenklich Gute und bedanken uns für seine Mitarbeit. 
 
Der Schein trügt 
H. war hocherfreut. Er fand, es war ein gutes, ehrliches Zeugnis. Voller Stolz sandte er es dem neuen Arbeitgeber.  
Umso überraschter war er, als er 2 Wochen später von dem Personalbüro seiner neuen Firma ein Schreiben bekam, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass aufgrund von aktuell aufgetretenen Engpässen in der Produktion, die zur Zeit der Unterzeichnung des Vertrages nicht absehbar gewesen waren, die Unterschrift widerrufen werde. Da der Vertrag eine 6-monatige Probezeit beinhalte, sei das rechtens, auch vor dem wirklichen Eintritt in das Unternehmen.
 
H. war am Boden zerstört. Es hatte alles so gut ausgesehen. In seiner jetzigen Firma konnte er nicht bleiben. Er musste den Weg zum Arbeitsamt antreten und sich neu bewerben.
 
Er besprach den Vorfall mit Bekannten. An der Meinung des Schwagers seiner Frau, der ein kleines Unternehmen mit 10 Angestellten leitete, war er besonders interessiert. Ihm gegenüber erwähnte er auch, dass er kurz vor der Absage sein Arbeitszeugnis eingereicht hätte.
 
Die Übersetzung 
Der Schwager liess sich das Arbeitszeugnis geben. Beim Lesen wurde er immer nachdenklicher und ruhiger.
 
„Was ist los?“ fragte ihn H.
 
 „Das kann ich Dir sagen,“ erwiderte der Schwager. „Arbeitgeber dürfen aus dem Betrieb ausscheidenden Arbeitnehmern kein Zeugnis schreiben, die ihre Chancen auf einen neuen Arbeitsplatz vermindern und so sie schaden könnten.
 
Da Arbeitgeber aber dennoch ein für sie vermeintlich realistisches Urteil abgeben wollen, besonders wenn der mögliche neue Arbeitgeber für den alten als wichtig angesehen wird, werden die Angaben im Zeugnis codiert. Soll ich die Formulierungen in Deinem Zeugnis entschlüsseln?“ fragte er.
 
H. schaute verstört. „So schlimm?,“ hauchte er.
 
Er bat ihn in seinen Hobbyraum, er wollte ein 4-Augen-Gespräch.
 
Nachdem beide sich zurückgezogen und mit einem Getränk versorgt hatten, legte der Schwager los.
 
„Hast Du eine Kopie des Zeugnisses?“ H. nickte. „Dann werde ich dir die wahren Formulierungen einfach daneben schreiben.“
 
Der erste Satz war so in Ordnung, aber dann wurde das Zeugnis richtig böse.
 
Er hat nach Kräften versucht, die Leistungen zu erbringen, die wir an diesem Arbeitsplatz für erforderlich halten.= Er hat getan, was er konnte, das war jedoch nicht viel.
 
Er zeigte für seine Arbeit Verständnis und Interesse. = In Wirklichkeit hat er ein geringes Fachwissen.
 
Er war sehr tüchtig und wusste sich gut zu verkaufen. = Er war ein sehr unangenehmer und überheblicher Mitarbeiter.
 
Er hat alle Arbeiten pflichtbewusst ordentlich erledigt. = Er war ein Bürokrat ohne Eigeninitiative.
 
Er war stets um ein gutes Verhältnis zu Kollegen und Vorgesetzten bemüht. = Seine Kollegen mochten ihn nicht, gingen ihm wenn möglich aus dem Weg.
 
Seine Auffassungen wusste er intensiv zu vertreten.= Er legte ein übersteigertes Selbstbewusstsein an den Tag, das nicht der Realität entsprach.
 
Herr H. zeichnete sich insbesondere dadurch aus, dass er viele Verbesserungsvorschläge zur Arbeitsvereinfachung einreichte. = Wenn der Nachsatz „..die auch von uns übernommen wurden.“ fehlt, bedeutet der Satz, dass die Vorschläge zur eigenen Erleichterung und aus Bequemlichkeit gemacht worden waren, also eigentlich war er faul.
 
Er hat alle Arbeiten ordnungsgemäss und mit grossem Fleiss und Interesse erledigt. = Einen gewissen Arbeitseifer kann man ihm nicht absprechen, aber geleistet hat er nicht viel.
 
Wir bestätigen gerne, dass Herr H. mit Fleiss, Ehrlichkeit und Pünktlichkeit an seine Aufgaben herangegangen ist. = Fachliche Qualifikationen hatte er nicht vorzuweisen.
 
Für die Belange der Belegschaft bewies er stets Einfühlungsvermögen.= Er war ein Schwerenöter und ständig auf Eroberungen aus.
 
Unsere besten Wünsche begleiten ihn. Wir wünschen ihm für die Zukunft alles nur erdenklich Gute und bedanken uns für seine Mitarbeit. = Im Grunde sind sie froh, dass er endlich weg ist!
 
H’s Gesicht verfärbte sich von Satz zu Satz. Er bekam einen Wutanfall und tobte los: „Ich werfe eine Bombe in den Laden. Die sollen mich einmal kennen lernen! Was denken die sich denn, wie die mit einem umgehen können! Zum Arbeitsgericht werde ich gehen, verklagen werde ich die!“
 
Er schnappte nach Luft und fasste sich an die Brust.
 
Der Schwager rief seine Frau: „Schnell, ruf’ einen Arzt!“
 
Mit einem Unfallwagen und mit Blaulicht fuhren sie ins Krankenhaus. Die Ärzte diagnostizierten einen Herzinfarkt. Nach einigen Wochen im Krankenstand wurde er für arbeitsunfähig erklärt und in die Frührente entlassen. Ein Arbeitszeugnis wird er nie wieder benötigen.
 
Quellen
Klaus Derksen Pocket Business: Arbeitszeugnisse, Cornelsen Verlag Scriptor http://www.zeugnisdeutsch.de/arbeitszeugnis/geheimcodes.php
 
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