Textatelier
BLOG vom: 25.07.2013

Metaphern: Gedanken über Gedichte Rilkes und Flauberts

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D 
Un coeur simple
Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Siehe, wie klein dort,
siehe: die letzte Ortschaft der Worte, und höher,
aber wie klein auch, noch ein letztes
Gehöft von Gefühl. Erkennst du's?
Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Steingrund
unter den Händen. Hier blüht wohl einiges auf; aus stummem Absturz
blüht ein unwissendes Kraut singend hervor.
Aber der Wissende? Ach, der zu wissen begann
und schweigt nun, ausgesetzt auf den Bergen des Herzens.
Da geht wohl, heilen Bewusstseins,
manches umher, manches gesicherte Bergtier,
wechselt und weilt. Und der grosse geborgene Vogel
kreist um der Gipfel reine Verweigerung. - Aber
ungeborgen, hier auf den Bergen des Herzens ... 
Es ist nicht mein Lieblingsgedicht von Rainer Maria Rilke, sondern das wäre „Der Panther“.
 
Aber dieses Gedicht ist voller Metaphern, Worte, die im übertragenen Sinne gebraucht werden. Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens ... Dreimal werden diese Worte in diesem Gedicht benutzt, sie sind das Leitmotiv.
 
Ausgesetzt? Das Wort hat mehrere Bedeutungen: An einen Ort bringen; (der Einwirkung von) jemandem oder etwas preisgeben; (etwas) in Aussicht stellen, und (eine Angelegenheit) verschieben sind 3 dieser Bedeutungen.
 
Wer oder was wird ausgesetzt? Im Text steht, es sei „der zu wissen begann“, der „schweigt“.
 
Der Blick geht vom Berg nach unten: Die letzte Ortschaft der Worte, ein letztes Gehöft von Gefühl. Oben ausgesetzt, Wissen wird in Aussicht gestellt. Was ist gemeint mit den Bergen des Herzens? Jemand ist oben, ausserhalb der Orte, dort, wo es nur noch das Herz gibt, keine Worte mehr, keine Gefühle.
 
Am Steingrund, am stummen Absturz ist noch niedriges Leben, unwissend singend. Berge des Herzens machen einsam, sprachlos, und der das erkennt, schweigt am Gipfel der Verweigerung. Nichts ist geborgen, man ist ungeborgen, wenn man dem ausgesetzt wird, das gefühllos und sprachlos macht.
 
Wie ist das, wenn sich ein Berg auftürmt, dem man ausgesetzt ist, auf dem die Worte verstummen und das Gefühl versagt?
 
Ich übertrage die Metaphern in eine konkrete Situation:
 
Eine unerwiderte Liebe, ein Verliebtsein, dem man ausgesetzt wird. Das Wissen darum macht sprachlos. Die Worte fehlen, sein Herz auszuschütten, die Gefühle werden tief im Innern unterdrückt. Ein Berggipfel ist erreicht, der sprachlos macht. Kein Gefühl der Geborgenheit, Einsamkeit, nichts lässt sich mehr greifen, man ist dem ungeschützt ausgesetzt. Rings herum am Steingrund des Lebens ist alles in Ordnung, das Ausgesetztsein im Innern wird nicht erkannt.
 
Otto Friedrich Bollnow liest das Gedicht anders. Er schreibt, man könne es nur dann interpretieren, wenn man die anderen Gedichte Rilkes mit einbeziehe:
 
Wieder also stehen wir vor der Eigenheit Rilkes, seelische Vorgänge an landschaftlichen Bildern zu verdeutlichen. So wird das eigne Innere hier als ein solches Urgebirge verstanden, in dem sich der Mensch hoffnungslos und verlassen vorfindet. Er wird also nicht einfach mit seiner Seele gleichgesetzt, sondern seine Seele ist ihrerseits etwas, in dem sich der Mensch vorfindet und zu dem er sich in einer Weise verhalten kann, die ihm als fremd und unheimlich gegenübertritt und vor dessen Gegebenheiten er erschrecken kann.
 
Die eine Interpretation geht vom Einzelmenschen aus, die andere von der Gattung Mensch. Es gibt dabei kein Richtig oder Falsch. Das Gedicht ist eine Verschlüsselung von Gedanken, die in jeder Zeit aus anderer Sichtweise entschlüsselt werden können.
 
Bei der Literaturverfilmung Ein schlichtes Herz nach dem Roman Un coeur simple von August Flaubert mit der hervorragenden Schauspielerin Sandrine Bonnaire in der Rolle ihres Lebens erinnerte ich mich an dieses Gedicht.
 
Der Roman und der Film handeln von einer Frau, die früh ihre Eltern verloren hat und von ihrer Schwester getrennt worden war. Félicités erste Liebe wird von ihr so intensiv empfunden, dass sie – wie im Film dargestellt – auch ohne sexuellen Vollzug zu einem Höhepunkt gelangt. Der Mann betrügt und verlässt sie ohne Abschied. Félicité verdingt sich in dem Haus einer Witwe mit 2 kleinen Kindern. Die Witwe kam über den Verlust des Ehemannes und Vater der Kinder nicht hinweg, verhält sich gefühlskalt gegenüber ihren Kindern, lässt aber auch nicht zu, dass Félicité ihnen ihre Zärtlichkeit schenkt.
 
Auch den Kontakt zu den Kindern verliert sie, als die Mutter sie ins Internat gibt. Die Tochter empfindet das von Nonnen geführte Internat als Gefängnis; sie erkaltet emotional, eines Tages stirbt sie dort. Eine leibliche Schwester erkennt Félicité, und es ergibt sich eine enge Beziehung zu ihrem Neffen, der sie sonntäglich besucht. Eines Tages fährt er zur See und Wochen später erfährt sie, dass er an Typhus gestorben ist. Das zufällige Geschenk eines Papageis an Félicité wird der letzte emotionale Bezug. Als dieser stirbt, sie selbst taub wird, dauert es nicht mehr lange bis zum Tod.
 
Ist sie nicht auch ausgesetzt auf den Bergen des Herzens? Sie kann dem Berg der Zärtlichkeit in ihr nicht entgehen, sie ist ihm preisgegeben. Immer wieder wird ihr die Hingabe verweigert, bis nur noch der grosse geborgene Vogel übrigbleibt. Als auch der stirbt, sind letzte Worte und das Gefühl verstummt. Ein steiniger Lebensweg der unerfüllten Sehnsucht des Herzens.
 
Und dem Zauber dieses Gedichts kann man ausgesetzt sein. Es wäre interessant, es oben auf einem Gipfel zu zitieren und dem Sinn nachzugrübeln, ob man sich auf dem Berge des Herzens befindet oder ob man einfach nur sprachlos sich der Einwirkung der Aussicht aussetzt!
 
Quellen
Wehle, Winfried; Flaubert: „Un coeur simple“, in: Krömer, Wolfgang: „Die französische Novelle“, August Bagel Verlag, Düsseldorf, 1976.
Laine, Marion, Regisseurin: „Un coeur simple“, (Ein schlichtes Herz) mit Sandrine Bonnaire, F 2008.
 
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