Textatelier
BLOG vom: 26.07.2013

Kurzgeschichte. 11 Uhr und 11 Minuten: Das Zufallsziel

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Der Bummelzug verliess den Bahnhof. Beim Fenster sass ein alter Mann und starrte gedankenlos durchs Fenster. Was lässt sich über ihn sagen? Er trug eine fadenscheinige Jacke. Seine Handrücken waren von geschwollenen Adern durchzogen. Ohne Fahrziel hatte er diesen Zug bestiegen. Ihm gegenüber sass eine junge Frau mit Kind. „Wohin fährst Du?“ fragte ihn der Bube. „Migger, Du darfst den Herrn nicht belästigen“, wies ihn die Mutter zurecht.
 
Der alte Mann erkannte sich in Migger wieder. „Ich muss umsteigen“, sagte er, als der Zug auf ein Seitengeleise abschwenkte. Der betagte Mann mit schütterem Haar schaute sich auf dem Bahnsteig nach dem Ausgang um. Ein Pfiff, und der Zug fuhr weiter. Es war genau 11 Uhr 11 Minuten.
 
Sein ganzes Leben lang war dieser Mann auf dem Seitengeleise durchs Leben gefahren. Er versah die ihm aufgetragenen Pflichten. Er war ein Überbleibsel aus der Vergangenheit und hatte den Anschluss an die Gegenwart verpasst. Er war vereinsamt. Die Alterspension holte er vom Postamt ab. Diesmal trug er seine ganze Monatspension auf sich.
 
Erst jetzt merkte er, dass er seinen Spazierstock im Zug gelassen hatte. Er meldete seinen Verlust beim Schalter. Der Beamte sagte, dass er ihm nicht helfen könne. Aber besann sich: „Warten Sie, ich habe einen Stock, den niemand abgeholt hat. Sie können ihn haben“, kam er zur Türe und überreichte ihm den Stock mit Horngriff. Lange ist es her, seitdem er ein Geschenk erhalten hatte. Er bedankte sich.
 
Wann habe ich das letzte Mal einen Ferientag genossen? ging ihm durch den Sinn. Vielleicht als 12-Jähriger, als er noch von seinen Eltern mit Migger angesprochen wurde. Mit 14 Jahren verliess er die Schule und verdingte sich als Hilfsarbeiter. Als Heizer schaufelte er Kohle in den Heizkörper der Lokomotive – immer auf der gleichen Stecke hin und her fahrend. Nach der Arbeit wusch er behelfsmässig in der Bahnhoftoilette den Russ aus dem Gesicht und von den Händen.
 
Der Mann setzte sich auf die Bank vor dem Bahnhof. Was hatte er hier verloren? Um diese Frage zu beantworten, hätte er ein Ziel haben sollen. Aber auch für Leute wie er gab es ein Ziel, und das heisst Zufall. Ein Hund beschnupperte ihn, von einem fein gekleideten Herrn an der Leine gehalten. Der alte Mann strich dem Hund über den Kopf und fragte: „Wie heisst er?“
 
„Sie ist eine Dame und heisst Tina“, antworte er heiteren Sinnes. „Meine Frau schickt mich und Tina immer um diese Zeit, pünktlich 11 Uhr, aus dem Haus, ganz wetterunabhängig." „Warten Sie auf einen Zug?“ fragte er den alten Mann.
 
„Eigentlich nicht“, antwortete dieser ausweichend.
 
„Auf der anderen Seite hat es ein angenehmes Restaurant. Wenn es Ihnen genehm ist, lade ich Sie zu einem Imbiss ein“, schlug er vor.
 
 „Genau Mittagszeit – und  Zeit für einen Humpen Bier!“
 
„Darf ich ihn an der Leine halten?“ fragte er den Herrn. Der Hund zerrte an der Leine, denn er wusste, wohin es ging.
 
Die Saaltochter stellte 2 Humpen Bier vor ihnen ab. Wie angenehm kühl das Bier durch seine ausgetrocknete Kehle rann! Zu seinen Füssen leckte Tina Wasser aus dem Blechnapf, den ihm die Saaltochter gebracht hatte. Dank dem Bier gewann der alte Mann wieder seine Zunge.
 
Hin und wieder musste er nach dem Wort suchen, denn er hatte selten Gelegenheit zu einem Gespräch.
 
„Ich heisse Ferdinand“, reichte der Herr mit dem Hund seine Hand, die der alte Mann verdutzt ergriff und sich als „Migger“ vorstellte.
 
„Ein ungewöhnlicher Name“, bemerkte Ferdinand.
 
„Ich kann nichts dafür. So haben mich meine Eltern genannt.“
 
Inzwischen war die Mittagzeit herangerückt. Ferdinand reichte Migger die Speisekarte. „Das Tagesmenü ist hier immer empfehlenswert“, meinte er. Jetzt wird gelüftet, in welchem Land diese Zufallsbekanntschaft stattfand. Das Menü begann mit einer „Nüdelisuppe“, gefolgt von „geschnetzelter Kalbsleber“ mit „Kartoffelstock“ und einem Teller Kopfsalat.
 
Im Gespräch eröffnete ihm Ferdinand, dass er jemanden suche, der Tina täglich spazieren führt und fügte schmunzelnd hinzu, „... denn es ist schwer, mit 2 Damen gleichzeitig auszukommen.“
 
Migger nahm das Angebot an und hatte sich damit ein Ziel geschaffen, das ihm wohlbekam.
 
 
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