Textatelier
BLOG vom: 23.03.2014

Jahrhundertchronist des Hinterlandes und der Landkultur

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Beromünster LU, zum 100. Geburtstag von Josef Zihlmann, „Seppi a de Wiggere“ (1914–1990)
 
 
Josef Zihlmann, in Hergiswil (Willisau LU) am 19.03.1914 hineingeboren in die Grossfamilie eines Leitermachers und Sigristen, gehört zu den Epochenfiguren der Zentralschweizer Volkskultur. Über Radio Beromünster war seine Stimme ab 1938 als unvergesslicher Geschichtenerzähler dem Volk bekannt. In „D’Chriesbäum sy höch“ wusste er zu berichten: „Zum Chriese bruuchts e langi Leitere. Dy lengschte het de Vatter gmacht. Im Vatter syni Leitere sy schön gsi, läng und liecht und elegant, prächtig glychbäumig, suuber gschaffet…“
 
Eine solche „Leiter“ hinauf in die Napf-Welt und das Enziloch hat Josef Zihlmann zum Beispiel für den Theaterschaffenden Louis Naef erstellt, als dieser sich vor 40 Jahren anschickte, vom Hinterland aus mit „D’Goldsuecher vom Napf“ das Volkstheater zu revolutionieren.
 
Zum letzten Mal sah ich den im Januar 1990 verstorbenen Meister der Innerschweizer Volks- und Namenkunde im Herbst 1989 in der Kommende Hitzkirch. Damals wurde sein abschliessendes Grundlagenwerk, „Volkserzählungen und Bräuche – Handbuch luzernischer Volkskunde“ (Comenius-Verlag) dem Publikum überreicht. Für mich als Autor und Lehrerfortbildner wurde Zihlmann väterlicher Wegweiser zu einer unverkitschten Volkskultur, desgleichen für Weggefährten wie den Nidwaldner Lehrer Hanspeter Niederberger (gestorben 2000) und den in Ruswil wohnhaften Ethnologen Kurt Lussi. Dieser präsentiert je am letzten Sonntag des Monats Zihlmanns volkskundliche Sammlung im Schloss Wyher in Ettiswil.
 
Was Luzerns Stadtschreiber Renward Cysat (1545–1616) begründete, als Volksschriftsteller und systematischer Aufzeichner von Brauchtum und Sagengut, fand mit „Seppi a de Wiggere“, wie der Hinterländer 1937 im „Willisauer Boten“ anonym genannt wurde, epochale Vollendung. Nüchterner gesprochen: Was mit Cysat begann, endete mit Zihlmann. Das Gedenken hat mit der Epoche einer während 400 Jahren dokumentierten voralpinen Kultur zu tun, deren Rückzug seit Zihlmanns Tod von Filmschaffenden wie Erich Langjahr, Edwin Beeler und Alice Schmid dokumentiert worden ist; in Sachen Namenkunde von Erika Waser und anderen, im Bereich der historischen Volkskunde von Dolderhaus-Konservatorin Helen Büchler-Mattmann (Beromünster).
 
Kein Zentralschweizer der letzten 100 Jahre hat sich als Namenforscher, Volkskundler, Kenner von Spiritualität und Brauchtum, verbunden mit einer unermesslichen Kraft der Darstellung, vergleichbare Verdienste erworben. Dies in Verbindung mit lebenslanger Berufstätigkeit als Pionier des Detailhandels sowie einem eindrücklich gelungenen Familienleben. Mit seiner Frau Caroline, geb. Fischer (1911–2001) führte Zihlmann in Gettnau jahrzehntelang einen Usego-Dorfladen. Für die legendäre Firmengenossenschaft von Tante-Emma-Läden leistete der gelernte Kaufmann in Olten und anderswo pionierhafte Weiterbildungsarbeit, u. a. mit Programmschriften zu Selbstbedienung sowie zur Frage der Nachfolgeregelung im Familienbetrieb. Dass Zihlmann, der mit lauter Maximalnoten ein Vierteljahr die Mittelschule Willisau besuchte, nicht studieren durfte, hängt mit den 1500 Franken Jahreslohn seines Vaters zusammen, was für die Mutter und 11 Kinder ausreichen musste.
 
Obwohl Zihlmann, zeitweilig noch Gemeindepräsident und Gemeindeammann von Gettnau LU, eine Lebensleistung für „normalerweise“ 3 bis 4 Personen erbrachte, war sein Lebensstil kaum durch Stress gekennzeichnet. Der sechsfache Familienvater war über Jahrzehnte ein liebender Ehemann und gemäss seinem Sohn, Redaktor Josef J. Zihlmann, als Vater mit erzieherischem Format erstaunlich präsent.
 
Als Chronist ländlich-christlichen Kulturlebens steht Zihlmann in der Tradition des aus Gettnau stammenden Sammlers der Sagen der 5 Orte, Alois Lütolf (1824–1879). Unbeschadet einer von aussen gesehen unscheinbaren Existenz repräsentiert der Innerschweizer Kulturpreisträger von 1982 die Basiskultur des Volkes. Damit ist nicht bloss „Bildstöckli“-Volksfrömmigkeit und Fasnacht gemeint, das Nachtbubenwesen um den 1. Mai, das Wissen um die Hauswurz, die vor Blitz und Donner schützt, nicht zu vergessen der einheimische Totenkult, als dessen Erforscher und schreibender Zeuge Zihlmann unübertroffen ist.
 
Wie wenige Forscher hat Zihlmann dem Volk „aufs Maul geschaut“, die Erzählungen der einfachen Leute notiert. „Namenlandschaft im Quellgebiet der Wigger“, „Pfaffnauer Namenbuch“ sowie die „Hof- und Flurnamen der Gemeinde Gettnau“ setzten zu einer Zeit Massstäbe, da noch nicht ‒ wie im Kanton Zug ‒ Millionenbeträge für solche Forschungen gesprochen wurden. Für die Losung „Namen erzählen Geschichten“ hat Zihlmann am Beispiel des Hinterländer Namengutes exemplarisch gearbeitet. Dazu gehörte bei ihm neben urkundlich belegten Detailkenntnissen die sogenannte „Realprobe“. Dies bedeutete, einen Flurnamen wie „Gitzi-Chnubel“ im Napfgebiet nicht bloss auf der Karte zu kennen. An insgesamt 3 Örtlichkeiten mit diesem Namen, in Menzberg, Luthern und Ufhusen, identifizierte Zihlmann „eine steile Bodenerhebung, wo nur noch die jungen Geissen hingehen“.
 
Josef Zihlmann erwanderte die „Gräben und Eggen“ des Hinterlandes. Zu Hochform ist Josef Zihlmann aufgelaufen, wenn er über „sein Enzi“ oder „Änzi“, etwa das Enziloch im Napfgebiet, zum Forschen und Erzählen ausholte:
 
„Der Name Enzi ist nach wie vor lebendig, und es ist nicht unwichtig, vorerst einmal festzustellen, was unser Volk unter Änzi versteht. Wenn wir beim Talboden anfangen wollen: die Leute von Willisau und Hergiswil sagen, sie gehen is Änzi hindere und meinen das ganze Quellgebiet der Enzi-Wigger, vom Talgrund bei der Höll hinauf auf den Napf und die Höhe des Hengsts, jene ganze Landschaft, über die sich der sagenschwangere Enziwald ausbreitet.“
 
In den Anmerkungen zu „Namenlandschaft aus dem Quellgebiet der Wigger“ zeigt Zihlmann keine Hemmungen, sich auf persönliche Erinnerungen zu berufen:
 
„Ich kann mich aus meiner Jugendzeit erinnern, dass alte Leute in Hergiswil noch vom Schiessen in den Enziflühen erzählt haben. Es gebe schwere Unwetter, haben sie gesagt, oder es zeige sich ein Krieg an, wenn ‚sie‘ im Enzi wieder schiessen. Der alte Himmel-Zimmerli erklärte mir einmal, wenn man im Enzi ein Donnern höre, das Kanonenschüssen ähnlich sei, so sage man: ‚es gurniglet‘. Die Enzi- oder Fluhmannli schiessen in den Flühen und im Enziloch, wenn das Wetter abfallen, zumal wenn Regen eintreten will.“
 
Die Erzählung, welche von der Identität durch Namen ausgeht, gibt eine Quelle an, den „Himmel-Zimmerli“, womit gleich ein Glanzstück eines ländlichen Zunamens demonstriert ist. Diese Einheit von Sache, Quelle und Erzähler entspricht der Gleichzeitigkeit von Meteorologie und ländlicher Prophetie, wie man sie in den Kalenderschriften von Paracelsus und auch bei den Aufzeichnungen von Renward Cysat findet. Zihlmann hat ab 1937 Nachrichten von Gewährsleuten wie dem „Himmel-Zimmerli“ in Karteikarten aufnotiert, auf diese Weise z. B. die spätesten Belege für das „Andreslen“ im Luzerner Hinterland geborgen: ein erotischer Brauch in der Nacht von St. Andreas (30. November). Ein mitternächtliches Wischritual von nicht mehr ganz jungen ledigen Frauen zwecks Anlockung eines Bräutigams. Der mit Gewährspersonen dokumentierte Brauch gehört zu den nicht wenigen Juwelen aus Zihlmanns Schatzkammer von Überlieferungen: Volkskunde als Zeugnis von Lebenskunst aus einer versunkenen Welt, von der heute noch immer markante Spuren auszumachen sind.
 
Hinweis auf Veranstaltungen
Im Raum Willisau finden seit Dezember 2013 noch bis zum kommenden September 2014 Gedenkanlässe zu seinem 100. Geburtstag statt. Zum Geburtstagsdatum am 19.03.2014 wurde in Hergiswil ein vom Künstler Bruno Zihlmann gestalteter Dorfbrunnen festlich eingeweiht, gemäss dem poetischen „Seppi“-Motto „De Brunne singt.“ Am 22.06.2014 findet in Gettnau eine Flurbegehung statt. Vom 08.08. bis zum 05.09.2014 wird Zihlmanns dramatisches Meisterwerk „D‘ Goldsuecher vom Napf“ unter der Regie von Schang Meier in der Mehrzweckhallte Hergiswil abermals in Szene gesetzt. Ausserdem würdigt Pirmin Meier das Lebenswerk Zihlmanns im kommenden Herbst 2014 an der Seniorenuniversität Luzern in einer mehrteiligen Vortragsreihe.
 
Hinweis auf weitere Biografien von Pirmin Meier
02.09.2013: Pierre Wauthier: Epoche in der Geschichte des Suizids?
25.08.2013: Zum Tod von Hugo Suter, Birrwil AG: Kultur findet vor Ort statt
21.08.2013: Thomas Wartmann & die Politik- und Wirtschaftsgeschichte
Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein
Fotoblog über den Schönauer Philosophenweg
Rote Bete (Rande), eines der gesündesten Gemüse
Hermann-Löns-Grab im Wacholderhain
Lüneburger Heide: Salzsau und Heidschnucken
Kutschenmuseum in Wiechs ist ein Schmuckstück
Canna verleihen einen Hauch karibisches Flair
Artenreiche Streuobstwiesen stark gefährdet
Liebe zu den Kräutern in die Wiege gelegt
Eine Hütte mit Fleischsuppe im Namen
Rätsel um die Russenbänke in Präg gelöst
Altes Giftbuch entdeckt – Wurde Mozart vergiftet?