Textatelier
BLOG vom: 01.06.2014

Der Vulcanus muss es vollenden: Alchemia nach Paracelsus

  
„Lernen von menschen ist kein lernen –
allein erwecken und ermahnen“[1]
 Grundlinien einer Paracelsischen Didaktik.
 
Thesen-Referat zum VI. Dresdner Symposium der Deutschen Bombastus-Gesellschaft e.V. Dresden am 27. April 2013 im Kulturrathaus Dresden aus Anlass des Erscheinens der 6. Auflage von „Paracelsus, Arzt und Prophet“ (Unionsverlag Zürich) von Pirmin Meier, Historischer Schriftsteller, Beromünster LU/Schweiz
 
 
Vor fast genau 250 Jahren (1763) wurde eines der revolutionärsten Bücher, die je durch die Druckerpresse gegangen sind, in anonymer deutscher Übersetzung vorgestellt. Ein Buch, welches radikale Bildungs- und Kulturkritik übte, nämlich Herrn Johann Jacob Rousseaus, Bürgers zu Genf, „Emil oder über die Erziehung“[2], sogar noch im Erscheinungsjahr des in Amsterdam und Den Haag veröffentlichten Originals (1762) in Berlin, Frankfurt und Leipzig in den Druck gegeben. Bei der Promotion der kommentierten deutschen Fassung an der Messe von Leipzig prangte das Buch schon seit Monaten auf dem Index der verbotenen Bücher der katholischen Kirche. Noch vor dem Zuschlagen Roms war das Buch sowohl in Paris als auch in Rousseaus Heimatstadt Genf vom Henker öffentlich verbrannt worden.
 
Ich gestatte mir, den „Emil“ auch deshalb in den Vordergrund meiner Ausführungen zu rücken, weil es meines Erachtens nicht genügt, sich mit den eingangs zu dieser Tagung zitierten Bildungsthesen von Richard David Precht[3] auseinanderzusetzen oder mit Dietrich Schwanitz [4] zu erörtern, „was man wissen muss“. Angesichts verkürzter Halbwertszeiten der Qualitätskonzepte des wohlfahrtsstaatlichen Bildungsmanagements bleibt es für eine stabile Orientierung richtig und wichtig, den Klassikern von Erziehung und Bildung weiterhin ein langfristiges Augenmerk zu widmen.
 
Zu diesen zählt, nebst etwa Platon, Comenius, Pestalozzi und Francke trotz mannigfachem Scheitern im privaten Leben Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) mit seinem Hauptwerk „Emil, oder über die Erziehung“. Eines der wohl bestformulierten Sachbücher der pädagogischen Weltliteratur.
 
In orthodoxen Kreisen am meisten umstritten war der 4. Teil mit dem eingeschobenen Untertitel: „Das Glaubensbekenntnis eines savoyischen Vikars“. Wenden sich Shakespeare, Goethe, Schelling, Novalis, Carl Gustav Jung und andere dem Hauptkriegsschauplatz des wissenschaftlichen Weltbildes ihrer Zeit zu, kommen sie irgendwann einmal auf Paracelsus zu sprechen. Erstaunlicherweise gilt das auch für Rousseau, wiewohl es bis anhin in der Forschung über Paracelsus meines Wissens nicht zur Kenntnis genommen wurde.
 
237 Jahre vor Peter Sloterdijks Rede „Regeln für den Menschenpark“ (1999), erörtert die tiefsinnigste Kunstfigur aus dem „Emil“, der savoyische Vikar, eine Vision aus der Zeit des Humanismus. Die Herstellung des Homunculus: den mit wissenschaftlich-technischen Mitteln manipulativ zu bildenden neuen Menschen. Dass dabei die einflussreiche, von Paracelsus-Kennern immer wieder einmal bezüglich der Echtheit in Frage gestellte Schrift „De natura rerum“[5] zitiert wird, lässt aufhorchen. Vor der massgeblichen Zitierung dieser Schrift, die bei aller Umstrittenheit mit dem Andenken des Paracelsus verbunden bleibt, spielt Rousseau auf zwei Zeitgenossen desselben an. Nämlich auf den italienischen Kabbalisten Giulio Camillo (1480–1541) und den portugiesischen Arzt-Alchemisten Amatus Lusitanus (1511–1568); letzterer für Rousseau ein „zweiter Prometheus“. Lusitanus war noch dazu Wegbereiter seines jüdischen Landsmannes Spinoza.
 
Für Rousseau war Paracelsus Materialist
Wenn Rousseau den in Genf 1603 in einer grossen lateinischen Ausgabe bei Destournes publizierten Paracelsus zitiert und kommentiert, müssen wir von dem ausgehen, was im Europa der Aufklärung landläufig als „paracelsisch“ betrachtet wurde. Der savoyische Vikar verdächtigt den Verfasser von „De natura rerum“ und dessen Umfeld, mit der Vision des Homunculus biologistische, naturistische bzw. naturalistische Konzepte von der Bildung des Menschen zu verbreiten. Gilt doch der Homunculus als der seit der Erschaffung Adams vom Homo faber, dem Techniker[6], auf dem Wege der alchemistischen Kunst „gebildete“ Mensch schlechthin.
 
Seit der fundamentalen Ouvertüre zu seinem Gesamtschaffen, der preisgekrönten Wettbewerbsarbeit für die Akademie von Dijon, dem „Diskurs über die Wissenschaften und die Künste“[7] (1750), neigte Rousseau dazu, den Wissenschaftsoptimismus der Aufklärung zu kritisieren, teils mit reaktionären, teils mit utopisch-prospektiven Argumenten. Dabei nahm der Genfer die modernen Naturwissenschaften, soweit sie ideologisch zum Materialismus neigten, ins Visier. Unter fast gleichen Gesichtspunkten wurden Esoteriker beziehungsweise Kabbalisten in Frage gestellt. Diese beriefen sich gelegentlich auf Paracelsus und die Tradition der Alchemisten. Den Hauptströmungen seines Jahrhunderts warf Rousseau einen materialistischen Machbarkeitsglauben vor.
 
Im zeitgenössischen Wissenschaftsbetrieb beanstandet Rousseaus Vikar die Ersetzung des Schöpfers durch das Prinzip Zufall. Dieser Vorwurf wäre beim originalen Paracelsus vollkommen unzutreffend. Dass aber neben Rationalisten und Empiristen sogar auch die Esoteriker des 18. Jahrhunderts als Materialisten eingeschätzt werden konnten, und zwar nicht nur bei Rousseau, bestätigte noch 1928 der damals nach Dresden umgezogene deutsche kulturphilosophische Schriftsteller Reinhold Schneider (1903–1958) mit seinem Essay über einen berühmten Magnetopathen und Naturphilosophen mit dem Titel: „Franz Anton Mesmer – der magische Materialist“[8].
 
Im Gesamtzusammenhang seiner Zivilisationskritik steht bei Rousseau der Name Paracelsus für eine abzulehnende Richtung. Genau gleich hielt es der entschiedenste Paracelsus-Kritiker unter den Medizin-Schriftstellern der Aufklärung: Johann Georg Zimmermann (1728–1795), vor seiner Berufung als Königlich-Britannischer Hofarzt nach Hannover in seiner Heimat Brugg im damaligen Kanton Bern als Anhänger Rousseaus verschrien. Für Zimmermann war Paracelsus der „Patriarch des Aberglaubens“, ein personifiziertes Synonym für die heruntergekommene Alchemie naturheilkundlicher Dorfärzte. Die entsprechenden kritischen Anmerkungen sind in Zimmermanns vielfach aufgelegtem Hauptwerk „Von der Erfahrung in der Arzneykunst“[9] nachzulesen.
 
Vulgäralchemistische Gesichtspunkte, wie sie Zimmermann kritisierte, waren zum Beispiel Rousseaus Erweckerin in erotischen, musikalischen und botanischen Angelegenheiten und früher Geliebten nicht fremd: Madame Françoise-Louise de Warens (1699–1762). Dies zum Missvergnügen des jungen Jean-Jacques, für den die Waadtländerin aus Vevey, „maman“ genannt, im savoyischen Chambéry eine Art Mutterersatz geworden war.
 
Bei Rousseaus Argumentation gegen das Bildungskonzept des Homunculus geht es um die Problematik, wie weit Entwicklung bzw. Weiterentwicklung von etwas Lebendigem auf Zufall beruhen könne; eine Frage, die sich später bei der Theorie von Darwin stellen wird. Wissenschaftshistorisch war und ist der neuerdings Einstein zugeschriebene Satz, „Gott würfelt nicht“[10], ein Diskurs des 17. und 18. Jahrhunderts. Dazu Rousseau in der Rollenprosa des savoyischen Vikars:
 
„Du vergisst, wird man mir sagen, die Anzahl der Würfe. Aber wie viele dieser Würfe muss ich denn voraussetzen, damit die Verbindung wahrscheinlich wird? Ich sehe nur einen einzigen und wette die Unendlichkeit gegen eins, dass sein Produkt nicht das Werk des Zufalls ist. Dazu kommt noch, dass Kombinationen und Glücksfälle immer nur Produkte gleicher Natur, wie die der verbundenen Elemente liefern, dass die Organisation und das Leben nicht das Resultat eines zufälligen Zusammentreffens von Atomen sind und dass kein Chemiker in seinem Schmelztiegel durch alle seine Mischungen jemals empfindende und denkende Wesen hervorbringen wird“[11].
 
Der Gemeinplatz „Gott würfelt nicht“, bzw. nach Einsteins späterem Diktum „Der Alte würfelt nicht“, also das Würfelprinzip als Anfang und Beweger der Natur, kommt im 4. Buch des „Emil“ explizit zur Erörterung, wenngleich nie absolut wörtlich. Der im Vorfeld von Rousseaus Attacken gegen den Materialismus als zuverlässig zitierte Wissenschaftler ist Isaac Newton (1643–1727). Dessen Physik bildet im 3. Buch des „Emil“ die Basis für die wohl vielschichtigste und gewiss schönste didaktische Parabel im Gesamtwerk Rousseaus: die Geschichte von der magnetisierten Ente. Hier verbindet Rousseau die naturwissenschaftliche Aufklärung in einmaliger, Johann Peter Hebel vorausnehmender Erzählkunst mit seinen pädagogischen, gesellschaftskritischen und politischen Visionen. Vergleichbares scheint – etwa in der Jugendliteratur des 21. Jahrhunderts – bis anhin noch nicht wieder in den Buchhandel gekommen zu sein.
 
Wenn der Autor sich im 4. Buch bei den unmittelbaren Prämissen zu seiner Kritik an den Alchemisten Paracelsus, Camillus und Lusitanus kritisch über das Würfeln als Basis der Schöpfung auslässt, dürfte das dahinter stehende positive Weltbild mit der reflektierten Frömmigkeit Newtons im Zusammenhang stehen. Dieser wird schon im 2. Buch des „Emil“ – wegen seines Grundsatzes, sich im Winter nicht zu warm und im Sommer nicht zu leicht zu kleiden – als Vorbild für die Jugend hingestellt.
 
Demgegenüber liegt bei den alchemistischen Theoretikern des Homunculus eine „menschliche Torheit“ vor, die Rousseau kaum für möglich gehalten hätte, gäbe es nicht Beweise aus deren Schriften:
 
Amatus Lusitanus beteuerte, einen kleinen Menschen von einem Zoll Länge in einem Glas eingeschlossen gesehen zu haben, den Julius Camillus, wie ein zweiter Prometheus, durch alchemistische Kunst erzeugt habe. In seiner Schrift De natura rerum lehrt Paracelsus, wie man diese Männchen erzeugen kann, und er behauptet, dass die Pygmäen, Faune, Satyren und Nymphen auf chemischem Weg erzeugt werden. Um die Möglichkeit solcher Dinge zu begründen, braucht man von nun an nur noch zu behaupten, dass die organische Materie im Feuer widersteht und dass die Moleküle auch im Flammenofen am Leben erhalten werden können[12].
 
So weit Rousseau. Bei genauem Lesen und Vergleichen mit Quellen, die im „Emil“ recht salopp referiert sind, handelt es sich nicht um eine ernst zu nehmende Kritik an Paracelsus, sondern – das Hauptanliegen des Genfers – um eine Infragestellung des damals aufkommenden Materialismus. Eine mechanistische Sicht der Dinge, die später, zum Beispiel aus marxistischer Sicht, als „Vulgärmaterialismus“ bezeichnet wurde.
 
Die Natur kennt keine Fertigprodukte
Dem originalen Paracelsus stand, bei überdurchschnittlicher Betonung des Leibhaften, eine materialistische Sicht der Dinge fern. Wesentlich blieb für ihn, und da stimmte er mit einer Hauptthese der Philosophie von Rousseau überein: ohne die Natur geht es nicht! Aus der Sicht des Alchemisten bleibt wegweisend: Es gibt in der Natur keine Fertigprodukte. Die Natur muss vollendet werden. So lesen wir bei Paracelsus im 5. Kapitel des Kärntner „Labyrinthus Medicorum Errantium“:
 
Und wie von nichts (vor der Schöpfung – Anmerkung des Autors) bis zum End alle Ding beschaffen seind, so sei nichts vorhanden, das schon auf seine Vollendung hin „gar“ sei, sonder der vulcanus muss es vollenden. Das Wort „gar“, im Verb „gären“ und in der Formalabstraktion „Gärung“ enthalten, ist so gemeint, wie es auch eine Küchenmagd verstehen würde. Einer der berühmten Rätselsprüche des Paracelsus scheint jedoch vorzuliegen in der Formulierung: sonder der vulcanus muss es vollenden[13].
 
Dieser vulcanus hat einerseits mit der die Schöpfung vollendenden Kraft in der Natur zu tun, andererseits auch mit der „Kunst“ des Alchemisten. In diesem Sinn ist „den Menschen machen und vollenden“ eine alchemistische Kunst. Eine Kunst der Vollendung, sicher aber nicht in einem materiellen oder materialistischen Sinne. Aus dem Kontext des fünften Kapitels des Labyrinthus lässt es sich präzisieren: Alchemia ist eine Kunst, vulcanus ist der Künstler in ihr. Der nun vulcanus ist, der ist der Kunst gewaltig. […] Was das Feuer tut, ist alchimia; auch in der Küchen, auch im Ofen. Was auch das Feuer regiert, ist vulcanus; auch der Koch, auch der Stubenheizer[14].
 
Der Paracelsische Leitbegriff vulcanus ist wie der Begriff des Alchemisten und wie selbst noch der Begriff des Feuers als Teil einer Bildsprache auf komplexe Weise analog zu verstehen; zwar intuitiv, aber nicht empirisch im Sinn eines mathematisierbaren Erfahrungsbegriffs. Der innere vulcanus ist eine Art personalisiertes Prinzip. Ein Alchemist ist seinerseits kein Wissenschaftler mit Planstelle, sonst könnte Paracelsus zum Beispiel nicht von einem „Alchemisten im Magen“ sprechen. Der Begriff des Feuers ist gemäss dem Opus Paramirum von St. Gallen (1531) nebst dem physikalisch-chemischen Terminus Bestandteil eines moralphilosophischen Diskurses:
 
Ein jeglicher glaube dem andern, so viel er selbst im feuer erfahren hat. Denn die arznei kann nicht dulden zu glauben, was nicht im feuer bewärt ist. Aus dem feuer wächst der arzt, wie angezeigt worden ist. Darum lerne alchemia, die sonst spagyria heisset: die leret das falsche scheiden von dem gerechten[15]. Der Titel meines Buches „Paracelsus, Arzt und Prophet“ ist entsprechend aus solchen Analogieverhältnissen zu verstehen: „Der so ein prophet ist, was ist ihm nicht wissend oder zu wissen? Der so ein doctor ist, wer ist über ihn? Denn aus solchen gehen feurige striemen, das ist: wie das feuer sind sie in ihren werken“[16].
 
„Schüler“ muss die Natur erfahren
Wir sehen, die Paracelsische Alchemie ist weit von irgendeiner mechanistischen und chemischen Deutung des Feuers entfernt. Sie ist, keineswegs im Gegensatz zum „Emil“, durchweht von einem ethischen, im Grunde erzieherischen Gedanken. Im ersten Kapitel des Kärntner Labyrinthus ist im Zusammenhang mit der alchemischen Kunst vom schüler die Rede, unweit vom „Schüler“ bei Goethes Faust, dem es zukommt, „die irdische Brust im Morgenrot“ zu „baden“. Gemäss der Programmschrift , hier zitiert nach Goldammers „Ausgabe des Landes Kärnten“ von 1955, bedeutet lernen für den Alchemie-Adepten, dass die Geheimnisse der Natur in den Schüler selber Eingang finden sollen:
 
Das soll nun ein jedlicher schüler wissen, dass er in solcher gestalt die natur erfahren muss. Denn das Wort, da er spricht: ‚lernet von mir‘ – das muss erfüllt werden. […] Als müssen die secreta und mysteria der natur in uns kommen […] so wir darin lernen und forschen die geschrift gottes, die uns die ding alle offenbaret[17]. Soweit wir gegenüber diesen „secreta“ und „mysteria“ offen sind, ist der „vulcanus“ in uns, welcher den Prozess des Werdens zu vollenden hat, jederzeit aktivierbar. Dies bleibt durch weitere Gedanken aus der Paracelsischen Didaktik zu vertiefen.
 
Das Motto des VI. Dresdner Symposiums lautet: Darauf so merken, das alle ding, die wir im alter gebrauchen sollen, von jugent auf in uns erzogen müssen werden und das erziehen bringt und macht ein felsen in uns. Dan was von jugent auf die gewonheit umbildet, das ist ein fels, darauf die natur bauet[18].
 
Der Satz am Eingang der Philosophia magna, aus dem 14. Band der Sudhoffschen Ausgabe, einer möglicherweise von Paracelsisten vorgenommenen Erweiterung des Hauptwerks Astronomia magna, scheint indirekt ins Paracelsus-Denkmal von Maria Einsiedeln eingegangen zu sein. Dort liess mein späterer Förderer, Autor und Chefredakteur Dr. Erwin Jaeckle, 1942 den Paracelsischen Satz eingravieren: „Ein jeder stehe wie ein Fels in seinem Wesen.“ Eine Variation des Humanisten-Mottos: Alterius non sit qui suus esse potest[19]. Es gehöre keinem andern, wer in sich selber bestehen kann ‒ das trutzige Bekenntnis eines Leibeigenen des Abtes von Einsiedeln.
 
Das Programm dieses Mottos hat mit dem reformatorischen Thema des freien Willens zu tun, ein Anliegen mehr von Erasmus als von Luther, aber im Sinne beider eine Devise der Erziehung zur Freiheit eines Christenmenschen, dem für die Reformation in Deutschland massgeblichen modernen Schlagwort in der Geschichte der christlichen Religion. Das Motto „Alterius non sit“ ist, ähnlich wie das „Ad fontes“ von Erasmus sowie „Ich hab‘s gewagt“ von Ulrich Hutten als Kurzcharakterisierung der geistigen Existenz von Paracelsus geeignet.
 
Die Gedanken zu Erziehung und Bildung fussen bei einem Arzt und Alchemisten auf einer Kombination von Naturphilosophie wie auch von Pädagogik im schon engeren Sinne gemäss dem Titel bzw. Untertitel meiner Ausführungen: lernen von menschen ist kein lernen […] alein erwecken und ermanen[20].
 
Ungesucht wird keine Heimlichkeit erfahren
Die Paracelsischen Gedanken zu Erziehung und Bildung sind durchwegs in Analogie zu alchemistischen Vorstellungen zu sehen. Das Tagungsmotto ist von mir durch zwei Sätze aus der „Astronomia magna“ zu ergänzen: Suchen ist geboten, ungesucht wird keine heimlichkeit erfaren[21], ein wegweisender Satz auch für Journalisten und Publizisten, dazu als weiterführende Perspektive: Kunst (womit die Chemie und Alchemie gemein sind Anmerkung des Autors) macht einen neuen himmel und ein neues firmament, dazu auch eine neue kraft, aus welcher neue künste fliessen[22].
„Grundlinien einer Paracelsischen Didaktik“ lautet der Untertitel meiner Ausführungen, wozu ich für das Dresdner Symposium sechs Thesen vorbereitet habe. Diese sind einerseits vielfach aus meinem jetzt neu in 6. Auflage beim Zürcher Unions-Verlag wieder verfügbaren Buch „Paracelsus, Arzt und Prophet“ teilweise wieder aufbereitet, andererseits verdanken sie ihre Konsistenz der wohl ergiebigsten Publikation des ehemaligen Generalsekretärs der Internationalen Paracelsus-Gesellschaft Salzburg, Prof. Sepp Domandl: „Erziehung und Menschenbild bei Paracelsus – Anfänge einer verantwortungsbewussten Pädagogik“[23] sowie den als Vermittlungsleistung hoch achtbaren Publikationen von einer um die deutsche Bombastus-Gesellschaft überaus verdienstvollen Persönlichkeit. Seit 30 Jahren lese ich mit Gewinn die Publikationen von Prof. Siegfried Wollgast. Dieser bedeutende Gelehrte, der wie nur ganz wenige zu DDR-Zeiten den deutschen Humanismus authentisch zu vermitteln wusste, hat mich ähnlich beeindruckt und im besten Sinne des Wortes beeinflusst wie seinerzeit Prof. Kurt Goldammer.
 
„Lehrer im Firmament“ – Didaktiker der Natur
Die Paracelsischen Gedanken zu Erziehung und Bildung enthalten einerseits ein Konzept von Naturphilosophie, andererseits ist, wenn ich mir diesen Ausdruck erlauben darf, mit Theophrast von Hohenheim ein Didaktiker der Natur, ein lehrer im firmament[24] an der Arbeit. Dies ist einerseits das Firmament, die Natur generell als Hörsaal der Weisheit, andererseits bewährt sich Paracelsus jenseits aller Wirrnisse, die zur Mühsal der Deutung seiner Texte gehören, durch eine oft grossartig umgesetzte sprachliche Anschaulichkeit selbst als ein Lehrer dieser Art.
 
Bei den Versuchen, dem Werk des Hohenheimers eine wissenschaftliche Systematik abzugewinnen, wird regelmässig auf neuplatonische Spekulationen verwiesen. Die Lehre von den vier Säulen der Medizin mutet, analog zu den vier Fakultäten der mittelalterlichen Universität, scholastisch an. Vergleichsweise unkonventionell, aber in der Zahlenanalogie der Hand mit ihren fünf Fingern (die auch für die chinesische Philosophie wichtig ist) ist auch die Lehre von den fünf allgemeinen Krankheitsursachen und den fünf Heilungswegen ein didaktisch beeindruckendes Modell. Der Versuchung zu noch stärkeren schulmässigen Vereinfachungen, etwa der jeweiligen Zuteilung eines Heilungsweges zu einer bestimmten Krankheitsursache, dürfen wir jedoch nicht erliegen. Insofern liegt in der Didaktik, welche Schwieriges „ad usum Delphini“, in der höfischen Erziehung „zum Gebrauch des Kronprinzen“ simplifizieren soll, immer auch eine Gefahr.
 
Der Kausalsatz: eine unparacelsische These
Von vorausweisendem erkenntnistheoretischem Orientierungsgehalt ist der enorme Gegensatz des Paracelsischen Denkens zum späteren materialistischen Kausalsatz, wonach gleiche Wirkungen auf gleiche Ursachen zurückzuführen seien und umgekehrt. Auf ein derart simplifizierendes Modell hat sich Paracelsus nie eingelassen. Die Pointe der Lehre von den fünf Entien (Ursachen der Krankheiten. Red.) läuft darauf hinaus, dass je dieselbe Krankheit keinesfalls auf eine ohne weiteres zu verifizierende einheitliche „monokausale“ Ursache zurückgeht. Ernährung und Erbgut spielen proportional mit, wie auch die Umweltbedingungen, die psychischen Interaktionen der Menschen oder die Beziehungen zwischen Mensch und Tier (etwa bei der Tollwut, die nach Paracelsus ihre Übertragung nicht einem Giftstoff, sondern der „Wut“ des Fuchses oder des Hundes verdankt) usw. Jede einzelne Krankheit hat in diesem Sinn ihre Geschichte, sie ist also historisch, nicht mechanistisch zu erklären. Dass gleiche Wirkungen streng auf gleiche Ursachen schliessen liessen, wäre ein unparacelsisches Konzept. Selbst wenn bei Paracelsus die Dinge „in der Mass“ und „in der Zahl“ sind, so wäre eine Medizin oder gar, wie bei Spinoza, eine Ethik „more geometrico“ nicht dasjenige, was er je angestrebt hätte. Entsprechend glänzen die Paracelsischen Rezepturen in den Basler Vorlesungen nicht konsequent durch sozusagen patentierbare Daten.
 
Unter dem Gesichtspunkt einer Paracelsischen Didaktik möchte ich auf der Grundlage meines heutigen Ausgangspunktes bei Rousseau auf Beispiele bildlicher Darstellung verweisen, bei denen Hohenheim auf beeindruckende Weise eine dem Geist der „Renaissance“ entsprechende „sensualistische“ Anschaulichkeit erreicht, so etwa im Rheinfall-Gleichnis im Buch „Paragranum“, in den Ausführungen über den Honig, der Erklärung von Ernährung und Verdauung, bei der Auslegung des Regenbogens sowie bei den männlichen und weiblichen Werken im alchemischen Prozess. Im Vergleich zum modern-naturwissenschaftlichen Denken dominieren im Werk von Paracelsus Analogien. Diese bringen als didaktische Gleichnisse mehr, als dass hier die wissenschaftliche Neuzeit durchbrechen würde.
 
Priorität der sinnlichen Wahrnehmung
Für die Priorität des Hörens, Sehens, Riechens und Schmeckens, also der sinnlichen Wahrnehmung, ist im Zusammenhang mit Paracelsus als Erforscher des Bodenseeraums zur Zeit seines St. Galler Aufenthalts mit Schwerpunkt auf die frühen 1530er Jahre die Metapher des Rheinfalls eindrücklich:
 
Dan also muss die philosophei der arznei geführt werden, dass auch die augen den verstand begreifen und dass sie in den oren töne wie der fall des Rheins und dass das getön der philosophei also hell in den oren lige als die sausenden winde aus dem meer und die zunge dermassen ein wissen trage als des honigs und der gall und die nasen schmecke ein ieglich geruch des ganzen subjects[25].
 
Der Rheinfall, die sausenden Winde am Meer, der geruch des ganzen subjects stehen für das Verhältnis des Menschen zur Wahrheit in der Natur, für eine Haltung des Empfangens, der Offenheit gegenüber der Schöpfung. Wozu hat Gott den Rheinfall erschaffen? Als einen Hörsaal der Natur. Dem Übelhörigen, der die gewaltige weibliche Urkraft des Wassers am einzelnen Wassertropfen nicht realisiert, bringt es der Rheinfall zu Ohren, zu Lebzeiten des Paracelsus das lauteste Geräusch im voralpinen Raum. Im Gegensatz zu Goethe, der 1779 dem Naturphänomen ebenfalls gegenüberstand, bestaunt Paracelsus den Wasserfall über die akustische Wahrnehmung, während für die optische der Regenbogen sozusagen das Wunder aller Wunder wird. Die Beschreibung des Erstaunens beim Sehen ist, wie ich es im Eingangskapitel meines Buches dargetan habe, bei weitem bedeutender als die im Vergleich zu Roger Bacon, der das Prinzip der Lichtbrechung im Wasser schon richtig erkannte, noch nach magischem und biblischem Denken orientierte Deutung des Naturereignisses. Wozu augen und zungen? […] anderst alein dass sie got dermassen gefallen haben.[26]
 
Der Regenbogen wird mit der Schönheit der Blumen verglichen, zugleich wird die Paracelsische Version des Erstaunens als Anfang der Philosophie präsentiert: Also sehent, wie der schöpfer die form den rosen gegeben hat, den gilgen (Lilien), aus welcher form nichts nützlichs geschicht als alein das wunder vor augen[27].
 
Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt! Dieser Ansatz hebt sich, nicht unähnlich Rousseau und später bei den Romantikern, klar von utilitaristischen Konzepten ab. Für die herkömmliche Aufklärung wurde das aristotelische Finalitätsprinzip „omne agens agit propter finem“[28], die Zweckursache, auf einen konstruierten Nutzen hin reduziert. Im Vordergrund stand natürlich der Nutzen für den Menschen bzw. die aufgeklärte Gesellschaft. , die Zweckursache, auf einen konstruierten Nutzen hin reduziert. Im Vordergrund stand natürlich der Nutzen für den Menschen bzw. die aufgeklärte Gesellschaft. . Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt! Dieser Ansatz hebt sich, nicht unähnlich Rousseau und später bei den Romantikern, klar von utilitaristischen Konzepten ab. Für die herkömmliche Aufklärung wurde das aristotelische Finalitätsprinzip „omne agens agit propter finem“, die Zweckursache, auf einen konstruierten Nutzen hin reduziert. Im Vordergrund stand natürlich der Nutzen für den Menschen bzw. die aufgeklärte Gesellschaft.
 
Der Alchemist im Bienenmagen
Nebst dem Hören und Sehen kommen bei Paracelsus das Riechen und Schmecken nicht zu kurz. Zu seinen stärksten Texten in dieser Richtung gehört die wunderbare Studie „Vom Honig“ aus der Schrift „Von den natürlichen Dingen“ von mutmasslich 1525/26, in der schönen, deutenden Übersetzung des Luzerner Arztes Josef Strebel in Band 8 seiner bibliophilen, aber oft etwas eigenwillig edierten St. Galler Ausgabe von 1949:
 
Die erste Materia des Honigs, lehrt demnach Paracelsus, sei die Süsse der Erden. Diese Süsse würde magnetisch von den Gewächsen ausgeschieden, sie sei in den Pflanzen enthalten und in dem Samen, in dem schon alle Farben schlummern. Für die Beschreibung der Süsse gibt es also bei Paracelsus Aromafarben. Mitwirkend sind noch Regen und Bodenbeschaffenheit, die Einfluss haben, ob der Honig dick oder dünn wird, hart oder fein. Für die Kulmination der Süsse braucht es abermals eine vulkanische Vollendung: Was in den Blüten und Zweigspitzen (locustis) wächst und zu Honig destilliert wird, ist jedoch durch die Gestirne noch nit in seine letzte Materia gebracht worden[29].
 
Die groben Dinge bleiben zurück auf der Erde, die feinen und süssen gehen himmelwärts. In dieser Verwandlung aber müssen sie den wohl kostbarsten „Alembik“ in der Natur passieren, den Bienenmagen. In diesem Magen wirkt der in der allgemeinen Theorie des Magens vielfach, zum Beispiel im St. Galler „Parmirum“ geschilderte „Archeus“. Verwandelt wird der Honig aus dreierlei Pflanzenstoffen: Blumen, Blüten, Zweigspitzen. Darin ist die „Süsse der Erden“ enthalten, die dann zu Honig transformiert wird. Die „ganze Süsse der Blüten“ wird „Lorcha“ genannt, „Tronossa“ ist der süsse Tau, der sich an Blüten und Früchten niederschlägt. Nebst dem Menschen ist die Biene das in der Alchemie bewanderte Lebewesen. Die Erfahrung lehrt, davon ist Paracelsus in „Von den natürlichen Dingen“ überzeugt, dass kein Tier dem Menschen so gleicht als die Immen [30][r1].............................   
 
Zur Vorbereitung dieses wundersamen Verwandlungsvorgangs bedarf es der „ästivalischen Influenz“ durch das Sommergestirn, welches im Bienenmagen den Spiritus des Honigs materialisiert. Die „Immen“ (Bienen) können eine weitere „materia materiata“ forttragen, woraus sie sie dann noch Wachs produzieren. Der Vervollkommnungsprozess gipfelt im Endprodukt, dem „Manna des Honigs“, das so wertvoll ist wie die Quintessenz in der Arzneimittelbereitung.
 
Die Seele: „Richter des Gehörs“
Was im Tosen des Rheinfalls gehört, im Regenbogen geschaut, in der „Süsse der Erde“, dem Honig, geschmeckt wird, muss im Geist des Alchemisten sodann noch verstanden werden. Es genügt nicht, einfach mit „baurenaugen“ zu sehen oder einfach nur auf das Tosen des Wasserfalls zu hören: die seel‘ des menschen ist die vernunft, die dann ist über das quintum esse, also die ohren sollen (ge)hören, so ist die seel der richter des gehörs[31].
 
Auge, Ohren, Nase, Zunge, Tastsinn, die Empfindungen „räsch“ (salzig), süss, scharf usw. unterstehen dem Gericht der Seele , welche nach „De sensu et instrumentis“ ist die vernunft, weisheit, sinnlichkeit des menschen.[32]
 
Die Seele wird auf derselben Seite dieser bedeutenden theologischen Schrift in ihrer Funktion mit dem „vorgeher“ der Immen, also der Bienenkönigin sowie mit dem „Vorflieger“ der Kraniche und dem Widder, dem Meister der Schafe, verglichen. Der Unterschied zwischen blosser Anschauung und Verstehen wird in der Kärntner Schrift „Vom Irrgang der Ärzte“, dem berühmten „Labyrinthus medicorum errantium“ in der begrifflichen Differenzierung zwischen „experimentum“ und „scientia“ anschaulich am Beispiel des Purgierharzes scammonea anschaulich gemacht. Es genüge nicht zu wissen, dass dieses Mittel scheissen macht, das wäre lediglich experimentum[33]Scientia würde bedeuten, warum und zu welchem Ende es scheissen macht. Der blosse Augenschein ist experimentum ohne scientia[34]. Gemäss der Basler Erneuerung des Hippokratischen Eides darf man dem Augenschein allein nicht vertrauen[35].
 
Paracelsische Weindegustation
Als ein Fest der Alchemie darf man sich auch eine Paracelsische Weindegustation vorstellen. Der Wein als das Resultat einer hochsubtilen Vereinigung der Sonne mit der Erde wird vom „Rebmann“ gemacht, der gemäss St. Galler Paramirum wie auch schon der Bäcker als ein Alchemist verstanden wird. Die Vereinigung der Sonne mit der Erde führt am Ende zu einem stark alkoholhaltigen, also „süssen“ Wein. Wie im Honig ist also auch im Wein die „Süsse der Erden“ enthalten. Letztlich ist die Honigproduktion die Verwandlung der „Süsse der Erden“ in etwas Essbares. Dies schliesst gedankenlosen verschwenderischen Konsum aus. Es geht auch nicht bloss um Energiezufuhr. Honig essen und etwa Wein trinken sind ein Vereinigungsvorgang, eine Hinwendung zur Süsse der Erde und deren Anverwandlung. Dabei ist auch die biblische Bedeutung von Honig und Wein nicht zu vergessen. Entsprechend ist es nicht verwunderlich, dass diese beiden wunderbaren Stoffe in der Brunnenvision des fastenden Eremiten von Klaus von Flüe zentral werden.
 
Ernährung und Verdauung sind ein höchst subtiler Prozess und deuten Vorgänge, die beim Menschen in Sachen Subtilität sogar noch die Vorgänge im Bienenmagen übertreffen. Dies betrifft etwa die Heiligenernährung, also die im Spätmittelalter gemachte anscheinende Erfahrung, dass es Menschen gebe, welche ohne herkömmliche Speise leben können.
 
Heiligenernährung – hohe Schule spiritueller Alchemie
Im 9. Kapitel meiner Paracelsus-Biographie über Heiligenernährung wie auch in meinem im September 2014 in 3. Auflage (Unionsverlag Zürich) erscheinenden Buch „Ich Bruder Klaus von Flüe – Eine Geschichte aus der inneren Schweiz“ wollte ich keineswegs beweisen, dass der Schweizer Landesheilige Niklaus von Flüe (1417–1487) wie andere Heilige, etwa die Niederländerin Lidwina von Schiedam (1380–1433) über Jahre nahrungslos gelebt hätten. Die Theorie der Heiligenernährung, die Paracelsus am Beispiel vor allem seines Landsmannes Klaus exemplifiziert, gehört zu den grandiosen Modellbeispielen spiritueller Alchemie. Wenn Klaus von Flüe, ein eucharistischer Heiliger der katholischen Kirche, subjektiv der Auffassung war, sich durch die Betrachtung der Hostie gleichsam ernähren und erbauen zu können, wird dies bei Paracelsus zu einem Beispiel für die im St. Galler „Paramirum“ von 1531[36] ausgeführte analoge Theorie des Magens, wonach wir in den Augen, in den Ohren, in der Nase, im Gehirn, im Herzen, in der Milz, ja generell in allen Gliedern über eine Art Magen verfügen würden. Bei Klaus von Flüe sind es, wie ich in meiner Biographie dargetan habe, gemäss Paracelsus der „Magen im Mund“ und der „Magen in den Augen“, wohl auch der „Magen des Gehörs“, wovon er sich erbaut und ernährt.
 
Bei der herkömmlichen Verdauung unterscheidet Paracelsus neben der „bäurischen“ Art über Magen und Darm die subtilere Mundverdauung und die Verdauung über die Augen, welches Modell zur Theorie der Heiligenernährung beiträgt. Dabei deutet er die Nahrungslosigkeit des Klaus von Flüe keineswegs als Vollkommenheit, weil gemäss der im 2. Band der Goldammerschen Ausgabe der Theologischen Schriften enthaltenen Abhandlung „Vom Fasten und Casteyen“[37] die traurigen Gedanken auch nähren. Was also einer in sich hineinfrisst, wie man heute noch sagt, führt zu einer Art Selbsternährung durch Melancholie, also eine humoralpathologische Erklärung für das jahrelange Fasten einiger Heiliger. Was die Bezüge von Paracelsus zu Klaus von Flüe betrifft, so hat er in seiner Jugend noch einen von dessen Besuchern gekannt, den Abt Trithemius von Sponheim (1462–1516), den er im 2. Kapitel der „Grossen Wundarznei“[38] seinen Lehrer nennt.
Abgesehen von den hochspekulativen, wohl gnostisch inspirierten Theorien über Heiligenernährung bleibt – bildlich gesprochen – nicht zu bestreiten: Unsere Augen haben viel zu verdauen, desgleichen die Ohren, zu schweigen vom Gehirn, welches nach Paracelsus im vierten Buch des St. Galler „Paramirum“[39] zum Beispiel als „frauenhirn“, „frauengeist“ anders funktioniert als das männliche Hirn und der männliche Geist, keineswegs mit einer Theorie vom „schwachen Geschlecht“ zu verwechseln. Bleibt es unzweifelhaft, dass unsere Augen, unsere Ohren, unser Gehirn sehr viel „zu verdauen“ haben, im Gedanken an die Menge der optischen Eindrücke und an die Menge der Informationen heute mehr denn je, ist die Paracelsische Theorie des Magens ein beeindruckendes pädagogisch-didaktisches Modell.
 
Sal, Sulphur, Merkur – auch ein Modell für die Wirtschaft
Hochgradig didaktisch mutet sodann die Paracelsische Erklärung seiner drei Prinzipien Sal, Sulphur und Merkur an. Ich kann mich bei diesem vielzitierten Beispiel, ebenfalls aus dem St. Galler Paramirum aus dem 9. Band der Sudhoffschen Ausgabe kurz fassen: Nun die ding zu erfaren, so nempt einen anfang vom holz: nun lass brinnen, so ist das do brinnt der sulphur, das da raucht der mercurius, das zu eschen (Asche) wird, sal[40]. Eine metaphorisches Weiterdenken der drei Paracelsischen Prinzipien des Festen (Sal), des Brennbaren (Sulphur) und des Flüchtigen (Mercurius) leistete sich der Schweizer Wirtschaftswissenschaftler und Oekonom Hans Christoph Binswanger in seinem Buch „Geld und Magie. Deutung und Kritik der modernen Wirtschaft“ am Beispiel von Goethes Faust und der Paracelsischen Dreiprinzipienlehre. Die moderne Wirtschaft sei insofern ein alchemistischer Prozess als „Plus ultra“, die Nichtanerkennung von Grenzen, zu deren Grundausstattung gehöre. Das Prinzip „Sal“ steht dabei für das Realkapital, die Summe der Produktionsmittel, Infrastrukturanlagen, Kraftwerke usw., das Prinzip „Sulphur“ besteht für die Investition, das Risikoprinzip, ein ausgesprochen männliches Werk, desgleichen der „Mercurius“, der sich im Prinzip Geld und Wechsel verflüchtigt, eine Symbolik, die angesichts des Desasters nicht nur mit der Ungleichzeitigkeit einer Wirtschaft, die den Wohlstand eines Kontinents auf eine unangemessene Währung aufbauen will, heute eine frappante Aktualität gewinnt[41].
 
Es ist nicht mit einem marxistischen Ansatz zu verwechseln, wenn Forschungen über Alchemie und Spiritualität, auch die Paracelsus-Forschung, sowohl die ökonomischen Verhältnisse in der Zeit von Renaissance und Reformation ins Auge fassen wie auch aus heutigen Perspektiven vom Paracelsischen Modelldenken her Denkanstösse entwickeln. Zwischen Paracelsus, seiner Alchemie und seiner Sozialkritik, etwa zu Franz von Baader (1765–1841), ist der Abstand geringer als der zwischen Karl Marx und uns heutigen. Dabei hat Baader bekanntlich 1835 aus Anlass seiner Englandreise die erste bedeutende gesellschaftskritische Analyse über die „Proletairs“, die Proletarier, geschrieben, mit einem evolutionären und integrativen Lösungsansatz, mit dem Baader in vieler Hinsicht historisch mindestens so sehr oder gar noch in höherem Ausmass recht bekommen hat als Marx und Engels mit ihrer Analyse.
 
Soweit Marx und Engels die grössten Probleme ihrer Zeit mit einer Revolution lösen wollten, Baader mit Verhinderung der Revolution dank Reformen und Integration der „Proletairs“, strebten beide Denker aus dem 19. Jahrhundert einen Wandel der Gesellschaft und der Wirtschaft an. So weit dies, weniger bei Baader als bei Paracelsus, ein „seliges leben“ schon auf Erden bedeutet, und soweit der Mensch sich in diesen Wandel begeben muss, liegt eine Art sozio-alchemistischer Prozess vor. Das Verhältnis zu Paracelsus bei den theosophischen Denkern Franz von Baader, Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling und beim schweizerischen Ignaz Paul Vital Troxler (1780–1866) könnte in angemessener Darstellung ein Standardwerk philosophischer Literatur werden.
 
Männliche und weibliche Werke
Bei Paracelsus ist stärker als bei Marx und Engels, nicht unähnlich aber zur „erotischen Philosophie“ Baaders, die Geschlechterdifferenzierung von hohem Belang. Im St. Galler Paramirum, was ich in meinem Buch „Paracelsus, Arzt und Prophet“ in extenso ausführe, ist von männlichen und weiblichen Werken die Rede, welche keineswegs moralistisch gegeneinander ausgespielt werden. Die männlichen Werke, das „Anzünden“ gemäss dem Prinzip Sulphur, das „Verduften“ gemäss dem Prinzip Merkur und das Auflösen durch Salzsäure gemäss dem Prinzip Sal sind durchwegs aggressiv, aber für den Wandel notwendig. Die weiblichen Werke sind eher konservativ bzw. konservierend. Die Nymphen bewahren gemäss dem „liber de nymphis“ die Wasserschätze; auch das Sorge tragen zur Erde und das Warmhalten des Ofens (den der Mann anzuzünden hat), sind weibliche Werke. Das Werk ist erst „ganz“ durch die Kombination bzw. das Zusammenwirken des Männlichen und des Weiblichen. Hohenheim wäre nicht Paracelsus, wenn er nicht dem Begriff der Ehe, der „chymischen Hochzeit“ der Alchemie-Tradition, nicht noch eine fundamentale Bedeutung im „Grossen Werk“ der Alchemie geben würde[42].
 
Sechs zusammenfassende Thesen
Zusammenfassend möchte ich den Weg meiner Ausführungen hin zur Bilanz, dass Lernen von Menschen kein Lernen sei, allein Erwecken und Ermahnen, in die dem Publikum eingangs abgegebenen sechs Thesen überführen:
 
These 1
Abgrenzung gegen die Scholastik: Theophrast von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493–1541), war bekanntermassen ein Kritiker der Scholastik, bis hin zur Bücherverbrennung in Basel. Mit Spott und Hohn äusserte er sich zum Beispiel über den Pariser Medizinscholastiker Jacques Despars, Jacobus de Partibus (1380–1458),  der an der Sorbonne 40 Semester lang seinen in vier Bänden (1498) veröffentlichten Kommentar zum Kanon der Medizin von Avicenna vorgetragen haben soll. Dabei finden wir jedoch nebst Polemik gegen die Scholastik gelegentlich Anerkennung, zum Beispiel gegenüber Albertus Magnus (1195–1280), von dem Paracelsus in seinen naturwissenschaftlichen Sichtweisen und als Erfahrungsmediziner weit stärker beeinflusst zu sein scheint als er in der Regel zugibt. Es gibt auch zahlreiche Titel von Traktaten, die gleich oder ähnlich klingen wie die entsprechenden Traktate von Albert von Bonstedt aus Lauingen, dem neben Meister Eckhart für die Menschheit unvergesslichen deutschen Scholastiker.
These 2
Zu den wenigen Lehrern, die Hohenheim rühmt, gehört der an Alchemie und Mystik interessierte Abt Johannes Trithemius von Sponheim (1462–1516), ausserdem sein Vater, der mutmassliche Tübinger Lizentiat der Medizin Wilhelm von Hohenheim (gest. 1534 in Villach). „Mein Vater, der mich nie verlassen hat.“ Diese „Privatlehrer“ bedeuteten ihm mehr als die oft verspotteten Professoren der Hohen Schulen, von denen die Ferrarenser Niccolo Leonicenio und Giovanni Manardi Bedeutung behalten haben. Obwohl das Doktorat des Paracelsus in Ferrara umstritten bleibt, gibt es genügend Indizien, die für seine Authentizität sprechen. Es bleibt aber dabei, dass für die Eigenwilligkeit Hohenheims das, was er an Schulen gelernt haben konnte, wenig massgeblich geworden ist. Die Bedeutung des Vaters als Lehrer, besonders im Bereich der Botanik, der Metallurgie und nach Indizien aus dem Umfeld der Johanniterkomturei Bubikon am Zürichsee für die Chirurgie, kann wohl nicht überschätzt werden. Mit einem gewissen Augenzwinkern erlaube ich mir die Anmerkung: Besser ein Vater als Lehrer denn ein Lehrer als Vater.
These 3
Die sinnliche Erfahrung. „Dass die Augen den Verstand begreifen“. Obwohl das Werk von Paracelsus bei weitem nicht frei ist von neuplatonischer Spekulation und auch scholastischen Vorstellungen einschliesslich der Durchdringung des Gesamtwerks durch biblische Auslegungen, huldigt Paracelsus in zwei seiner wichtigsten Bücher, dem Paragranum, geschrieben in Berazhausen im Labertal (1530) sowie im Kärntner „Labyrinthus medicorum errantium“ (1538) dem Vorrang von Anschauung und Erfahrung. Ein kolossales Bild präsentiert Paracelsus mit dem Rheinfall bei Schaffhausen als Hörsaal der Natur. Analog lesen wir im Kärntner Labyrinthus: Dan die augen zeigen experimentum an, aber nit experientiam[43].
 
Damit ist gesagt, dass der Augenschein, generell die sinnliche Erfahrung, zwar am Anfang der Erkenntnis steht, aber nicht genügt. Die bauren augen sehen oft genau das nicht, worauf es ankommt: also das äusser zu sehen, ist dem bauren beschaffen, das inner zu sehen, das ist das heimlich, das ist dem arzt beschaffen[44]. Die Verwandlung der Anschauung durch „erfarenheit“ in die „scientia“, ist bei Paracelsus eher als Weisheit denn als Naturwissenschaft im heutigen Sinne aufzufassen.
*
These 4
Nominalismus:
 Zu den Grundlinien einer Paracelsischen Didaktik gehört die Erklärung aus dem Einzelfall, das anschauliche Einzelbeispiel. Das wohl berühmteste stammt aus dem St. Galler Paramirum[45] von 1531, die Illustration der drei Prinzipien Sal, Sulphur und Merkur. von 1531, die Illustration der drei Prinzipien Sal, Sulphur und Merkur.
These 5
Auch für die Paracelsische Didaktik ist das Erstaunen der Anfang der Philosophie. Exemplarisch versuche ich dies zu zeigen im 1. Kapitel meiner Studie „Paracelsus, Arzt und Prophet“ am Beispiel der Auslegung des Regenbogens, gesehen über den bodenseeischen Grenzen am 28. Oktober 1531: Der Regenbogen kann naturwissenschaftlich in der Art von Roger Bacon ausgelegt werden; er kann aber auch biblisch-prophetisch als Friedbogen, Friedenszeichen verstanden werden. Über beide Deutungen hinaus hält die Paracelsische Didaktik, die sich auf einen Apollo beruft, einen schulmeister, den got gestelt hat in den unsichtbaren schulen im firmament, an einer absolut offenen Deutung des Phänomens fest: Wozu augen und zungen? […] anderst alein dass sie got dermassen gefallen haben[46].
These 6
Die Paracelsische Didaktik gipfelt, wie bereits 1970 der damalige Sekretär der Internationalen Paracelsus-Gesellschaft, Sepp Domandl, in seiner Studie Erziehung und Menschenbild bei Paracelsus[47] dargetan hat, im Satz „lernen von menschen ist kein lernen, es ist vorhin im menschen, alein erwecken und ermanen"[48]. Dazu Paracelsus in den überlieferungsmässig zwar umstrittenen, aber seine Gedanken klar wiedergebenden Schriften „De Meteoris“[49] und „Philosophiae tractatus quinque“[50] aus dem 13. Band der Sudhoffschen Ausgabe:
 
Es gelte, alle menschen in ehren haben, denn bei allen ist, das in dir ist; in einem jeglichen ligt, das in dir ligt […] einem armen gleich so wohl wachst das seine im garten, als dem reichen […] im menschen ligent alle hantwerk, alle künst, aber nicht alle offenbar. Lehren ist in diesem Sinne aufwecken, […] das selbig bringets herfür, so weit er aufgeweckt wird. Lernen von menschen ist kein lernen, es ist vorhin im menschen, alein erwecken und ermanen. Dan als wenig du magst ein holz lernen tanzen, machen ein hunt reden, also wenig magstu einen schüler lernen aus dir. Dan es ist im hunt nit, im holz nit, das im schüler ist, darum ist ein kint ein ambiguum (ambivalentes Wesen – Anmerkung des Verfassers), darnach du es erweckst, darnach hastus. Erwecksts mit einem schuster, so ist er ein schuster, erwecksts mit einem steinmetzen, so ist er ein steinmetz, erwecksts mit einem gelerten, so wird er gelert. Darumb wird es also, dass alle ding in ime sint. Welchs du erweckst in im, das gehet herfür, die andern bleiben schlafen[51].
 
Eine fundamentale These im Paracelsischen Zitattext drückt aus, dass die Erweckung des Schülers nicht ohne Rückwirkung auf den Lehrer bleibt: „Darauf so merken, dass alle ding, die wir im alter gebrauchen sollen, von jugent auf in uns erzogfen müssen werden und das erziehen bringt und mach ein felsen in uns"[52].
 
Günter Ickert ergänzte dieses Zitat in seinem Vortrag zum IV. Dresdner Symposium vom 18. Mai 2005 noch durch ein Zitat aus dem 13. Band der Sudhoffschen Ausgabe: Du wekst die schüler und sie dich auch[53]. Diese Wechselwirkung ist wesentlich.
*
Bemerkenswerterweise ist, wie Domandl nachgewiesen hat, ohne direkte Berufung auf Paracelsus, Erwecken und Ermahnen zum Leitbegriff des Pädagogen Otto Friedrich Bollnow (1903–1991) geworden. Mit zur Paracelsischen Didaktik gehört die Theorie der Relation, wie man, analog zur Wissenschaft, die Bibel bzw. das Wort Gottes nur verstehen kann, wenn man es praktiziert. Sinngemäss: Vom Anhören des Wortes Gottes wurden sie nicht erleuchtet; als sie es aber taten, da kam die Erleuchtung. Paracelsische Didaktik hat stets mit einer grossen Synthese von Medizin, Wissenschaft, persönlicher „Erfahrenheit“ und Ethik zu tun. Mit zu dieser Didaktik gehören auch die zahlenmystisch durchwobene Dreiheit von sal, sulfur und mercurius wie auch die vier Säulen der Medizin und die mit der chinesischen Philosophie wesensverwandten fünf Gründe und fünf Wege.
 
Das Grosse Werk der erzieherischen Alchemie und damit das Werk der Menschwerdung als Vollendung der Schöpfung unweit späterer Konzepte von Teilhard de Chardin über den Weg der Materie zur Biogenese, von der Biogenese zur Noogenese oder Menschwerdung ist für Paracelsus, wie er es im Liber de nymphis ebenso dargetan hat, wie in den von Urs Leo Gantenbein wieder zugänglich gemachten Theologischen Schriften zur Vita-beata-Thematik, ein Weg zum „seligen Leben“, was mehr bedeutet als nur die Bemerkung von Gretchen in Goethes Faust, dass dies der Pfarrer auch sage, „nur mit ein bisschen anderen Worten“. Seliges zu beschreiben ist viel, vermerkt Erwin Jaeckle in seiner späten Abhandlung „Paracelsus und der Exodus der Elementargeister“, viel mehr noch des seligen lebenswandel‘[54]. Unter „selig“ versteht Theophrast das Entzücken eines Geborgenen, „makarios“, erweiterte Preisung der Bergpredigt“[55].
 
Alchemie des seligen Lebens – das Erbe für die Kinder
Ich möchte schliessen mit einem Zitat aus dem schon erwähnten „Liber de honestis utrisque divitiis“, einem der wegleitenden Theologischen Traktate aus dem 2. Band der Goldammerschen Abteilung der Theologica:
 
Darzue auch wirstu sehen nach dir kommen in Jherusalem deine kinder, die auch also, wie du gelebt hast, in gleicher reichtumb; und derselbigen kinder, die auch wie ir vatter gelebt. Und noch weiter, das ist: bis zum letsten stein auf erden wirst du sie all einander nach sehen, und die alle in ewigen friden und rue, do nimmer der schweiss sein wird, nimmer die arbeit, sonder das ewig leben in allen freuden. Also ist die selig reichtumb auf erden […][56].
 
Die Aussage scheint im Gegensatz zu stehen zu So nun der selig weg der narung allein in der arbeit stet und nit in müssigeen, zumal man seine Kinder so erziehen soll, dass sie freid hab(en) an der arbeit[57]. Es handelt sich aber nur um einen scheinbaren Gegensatz. Der Weg zur Vollendung führt über die Arbeit, so wie die heilige Elisabeth von Thüringen auch als Mystikerin hervorhob, dass die Tugend die Arbeit erfordere[58].
 
Das asketische Leben, die innerweltliche Askese, wie sie Max Weber als charakteristisch für das protestantische Arbeitsethos kennzeichnete, ist eine Losung für unterwegs. Der selig Reiche muss verstehen, dass er sich nit besser kleide als den Armen gleich[59]. Das Unterwegssein als der „natur arbeiter“ im Grossen Werk ist auf ein künftiges „himmlisches Königreich auf Erden“ ausgerichtet. In dieser Reihe der Erdenpilger nach Jerusalem stehen auch die Kinder, die beim Erben nicht auf die Kaufmannsschätze ihrer Väter angewiesen sind. Arbeit ist dann nicht mehr im Wortsinn Mühsal, wenn es um die Erkenntnis im Lichte der Natur geht. Um ihretwillen soll uns das Leben eine Freude sein und der Tod verhasst[60][r2]. 
 
Am Ende des alchemischen Prozesses, der vor allem ein Prozess der Wandlung des Menschen ist, ein Weg zu einem erlösten Zustand, was eigentlich mit Auferstehung gemeint ist, steht eine neue Art Gastmahl: Wir essen nicht den ans Kreuz geschlagenen Leib […] Durch den Glauben essen wir seine Substanz als eines gleichen Gottes der Trinität, Brot vom Himmel herab[61], zitiert Jaeckle aus einer Abendmahlsschrift. Damit scheint angedeutet, was Paracelsus unter Heiligenernährung versteht. Jedenfalls kein herkömmliches Propaganda-Wunder, wie es zu Lebzeiten von Klaus von Flüe und anderen Heiligen verkündet wurde. Am Ende der Verwandlung offenbart sich das Manna, die am Beispiel der Bienen ausgeführte „Süsse der Erden“. Die Hässlichen und Buckligen, zu denen Hohenheim auch gehörte, gewahren die Schönheit des Leiblichen. Die Erden bleibet und wartet auf den erben, der ir mit furcht gottes gebraucht[62].
 
Damit ist fast alles gesagt über die einmalige Schönheit des Daseins im Leib, „ein zier“ (a.a.O.) [r3], als dessen Substanz Paracelsus das „Herz“ verkündet, die Substanz der Welt aber als das „Geblüe“, den Sammelpunkt der „Süsse der erden.“ Aus diesen Perspektiven muss den Arzt und Alchemisten nichts gereuen. Hat er doch, als ein gewaltiger Meister des irdischen Lichts, seine Tage mit den Arcanis verbracht, den Heilmitteln aus dem Lichte der Natur. Unterwegs zum „seligen leben“, wie in „De religione perpetua“ ausgeführt in der Neuausgabe von Urs Leo Gantenbein: „Also ist der grund der wahrhaften arznei, durch die wir im seligen leben wohl müssen seliglich desselbig brauchen und füeren gegen unserm nächsten, an unser seel seligkeit.“ Paracelsus, Theologische Werke I, Berlin – New York 2008, S. 307.
*
Die Arznei, der Weg zur Gesundheit, soll zu einer sinnvollen Lebensgestaltung führen zu was sonst?
 
 
Hinweis
Dieser zu einem Vortrag ausgearbeitete Essay beruht auf zum Teil weiterführenden Reflexionen zum Erscheinungstag der 6. Auflage von „Paracelsus, Arzt und Prophet“. Wesentliche Quellenverweise sind in den Text verwoben, für weitere Anmerkungen und Belege wird auf das Buch verwiesen. Die Vortragstätigkeit von Pirmin Meier zu Paracelsus wird längerfristig in einen 2. Band seiner Studien zu Hohenheim eingehen, gewidmet der Bombastus-Gesellschaft Dresden, der sich der Verfasser seit ihrer Gründungszeit verbunden weiss.
 
Literatur
Binswanger, Hans C.: „Geld und Magie. Deutung und Kritik der modernen Wirtschaft anhand von Goethes Faust“. Stuttgart 1985.
 
Domandl, Sepp: „Erziehung und Menschenbild bei Paracelsus – Anfänge einer verantwortungsbewussten Pädagagik“. In: Salzburger Beiträge zur Paracelsus-Forschung, Bd. 9. Hrsg. von der Internationalen Paracelsus-Gesellschaft. Wien 1970.
 
Jaeckle, Erwin: „Paracelsus und der Exodus der Elementargeister“. Lahnstein 1987.
 
Meier, Pirmin: „Ich Bruder Klaus von Flüe: eine Geschichte aus der inneren Schweiz“. Zürich 1997.
 
Meier, Pirmin: „Paracelsus, Arzt und Prophet“. Zürich 2013.
 
Meier, Pirmin: „Sankt Gotthard und der Schmied von Göschenen.“ Zürich 2011.
 
Paracelsus: „Die Kärntner Schriften“, Ausgabe des Landes Kärnten. Hrsg. von Kurt Goldammer. Klagenfurt 1955.
 
Paracelsus: „Sämtliche Werke“. I. Abteilung. Hrsg. von Karl Sudhoff. München 1922-1925 (Bd. 6-9). München/Berlin 1928-1933 (Bd. 1-5 und Bd. 10-14).
 
Paracelsus: „Sämtliche Werke“. II. Abteilung. Hrsg. von Wilhelm Matthiessen (Bd. 1) und Kurt Goldammer (Bd. 2-7). München 1923 (Bd. 1) Wiesbaden 1955-1986 (Bd. 2-7).
 
Paracelsus: „Theologische Werke I, Vita beata – Vom seligen Leben“, herausgegeben und eingeleitet v. Urs Leo Gantenbein, Berlin New York 2008.
 
Paracelsus: „Sämtliche Werke in zeitgemässer kurzer Auswahl“. Hrsg. von Josef Strebel. St. Gallen 1944-1949 (Bd. 1-8).
 
Rousseau, Jean-Jacques: „Emil, 4. Buch“. Deutsch v. Ludwig Schmidt. Paderborn 1975, S. 287.
 
Schneider, Reinhold: „Franz Anton Mesmer – der magische Materialist“. Hrsg. von Maria van Look. Freiburg i.B. 1969.
 
v. Zimmermann, J. G.: „Von der Erfahrung in der Arzneykunst“. Zürich 1787.
 
Paracelsus. 6.Auflage
Ein Buch von Pirmin Meier:
„Ein Buch, spannend wie ein Roman der Extraklasse,
Wissen vermittelnd wie ein
vorzügliches Lehrbuch.“
Naturheilpraxis
 
 
Hinweis auf weitere Blogs über Paracelsus
29.01.2007: Aktualisierter Paracelsus: Vom Glauben und Aberglauben


[1] 1/XIII/298.
[2] So lautet der Titel in der Übersetzung von J. H. Campe, erschienen bei R. Grässer 1789.
[3] Anm. d. Red.: Precht, Richard David: Anna, die Schule und der liebe Gott: Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern. München 2013.
[4] Anm. d. Red.: Schwanitz, Dietrich: Bildung - Alles, was man wissen muß. München 2002.
[5] 1/XI/318ff.
[6] Homo faber (lat., „der schaffende Mensch“): Hier in Bezug auf die Hauptfigur Walter Faber im Roman „Homo faber. Ein Bericht“ des Schweizer Schriftstellers Max Frisch, welcher Ingenieur von Beruf ist.
[7] Rosseau, Jean-Jacques: Discours sur les Sciences et les Arts (Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste). Genf 1750.
[8] Schneider, Franz Anton Mesmer, der magische Materialist, in: M. van Look, Reinhold Schneider – Franz Anton Mesmer, Freiburg i.B. 1969.
[9] Zimmermann, Von der Erfahrung in der Arzneykunst.
[10] Anm. d. Red.: Einstein schrieb am 4.12.1926 in einem Brief an Max Born: „Die Quantenmechanik ist sehr achtunggebietend. Aber eine innere Stimme sagt mir, daß das noch nicht der wahre Jakob ist. Die Theorie liefert viel, aber dem Geheimnis des Alten bringt sie uns kaum näher. Jedenfalls bin ich überzeugt, daß der nicht würfelt.“ In: Einstein, A., Born, H. und Born M.: Briefwechsel 1916 – 1955. Hamburg 1972.
[11] Rosseau, Emil, 4. Buch, S. 287.
[12] Ebd., S. 287.
[13] Paracelsus, Die Kärntner Schriften, S. 93f.
[14] Ebd., S. 93.
[15] 1/IX/55.
[16] 1/XII/320.
[17] Paracelsus, Die Kärntner Schriften, S. 53.
[18] 1/XIV/10.
[19] „Alterius non sit qui suus esse potest“ ist der Wahlspruch des Paracelsus (lat.): Ein jeder stehe/bleibe wie ein Fels in seinem Wesen.
[20] 1/XIII/298.
[21] 1/XII/151.
[22] Ebd., S. 183.
[23] Domandl, Erziehung und Menschenbild bei Paracelsus, Salzburger Beiträge Bd, 9, Wien 1970.
[24] 1/XII/192.
[25] 1/IIX/70.
[26] 1/XIII/212.
[27] Ebd.
[28] Lat.: Alles Wirkende wirkt wegen eines Zwecks.
[29] Paracelsus, Von den natürlichen Dingen, Strebel, Paracelsus , Bd. VIII, S. 274.
[30] Ebd., S. 274
[31] 2/II/87.
[32] Ebd.
[33] 1/XI/191.
[34] Ebd.
[35] 1/VI/162.
[36] 1/IX/150ff.
[37] 2/II/423ff.
[38] 1/X/7ff.
[39] 1/IX/177ff.
[40] 1/IX/46.
[41] Binswanger, Geld und Magie, S. 50f.
[42] Meier, Paracelsus, Arzt und Prophet, 7. Kapitel.
[43] 1/XI/192.
[44] Ebd., S. 46
[45] 1/IX/39.
[46] 1/XII/212.
[47] Domandl, Erziehung und Menschenbild bei Paracelsus, Wien 1970
[48] 1/XIII/298.
[49] Ebd., S. 125ff.
[50] Ebd., S. 335ff.
[51] Ebd., S. 298f.
[52] 1/XIV/10.
[53] 1/XIII/299.
[54] Jaeckle, Paracelsus und der Exodus der Elementargeister, S. 83.
[55] Ebd., S. 83.
[56] 2/II/45.
[57] Ebd.
[58] Meier, Sankt Gotthard und der Schmied von Göschenen, S. 99.
[59] Jaeckle, Paracelsus und der Exodus der Elementargeister, S. 28.
[60] Ebd., S. 83f.
[61] Ebd., S. 30.
[62] 2/II/XX.

 [r1] Zitat
 [r2] Zitat
 [r3] Peuckert, ebenda, S. 402
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