Textatelier
BLOG vom: 14.06.2014

Frank Schirrmacher: Das Ego oder das Spiel des Lebens

Autor: Pirmin Meier, Historischer Schriftsteller, Beromünster LU
 
Frank Schirrmacher, der grosse deutsche Publizist und Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), hat sich wie wenige der Frage der Alterung bzw. der Überalterung der Gesellschaft angenommen. Ein paradoxes Schicksal bringt es mit sich, dass der am Donnerstag, 12.06.2014, an den Folgen eines Herzinfarktes verstorbene 54-Jährige sein Thema des Älterwerdens nicht mehr an sich selber testen konnte.
 
Geboren am Samstag, dem 05.09.1959, war der Herausgeber der FAZ auf seine Weise ein Schnelldenker, ein Buchautor mit Sinn für wichtige Themen und ein Mensch, der als wacher Zeitgenosse anzusprechen war. Die Bezeichnung als Schnelldenker liegt deswegen nahe, weil er die grossen Themen der Zeit in genialischer Vermittlungsqualität jeweils aufgriff, nie zu früh, selten zu spät. Überdies trifft sich sein Geburtstag mit dem des um 20 Jahre älteren Automobilrennfahrers Clay Regazzoni (1939‒2007), dem das schnelle Fahren in gleicher Weise lag wie Schirrmacher das schnelle Denken. Gleichzeitig schnell fahren und schnell denken konnte der Philosoph und Autofahrer in Gemeinschaft mit Jo Siffert, der polnische Meisterlogiker Józef Maria Bocheñski (1902–1995), der als einer der technisch präzisesten Denker der letzten 100 Jahre an der Universität Fribourg im Uechtland/CH lehrte. Im Vergleich zu einem Logiker, der am Ende immer Recht behält, sitzt der Journalist und vollprofessionelle Publizist vor den Augen der Öffentlichkeit am stärkeren Hebel. Jetzt aber hat der Tod alle gleich gemacht, die Autorennfahrer, die nicht im Bett verstorben sind, den uralt gewordenen Logiker und den früh verstorbenen deutschen Erzpublizisten.
 
In der deutschen Mediengesellschaft von den 1980er Jahren bis in die Gegenwart war Frank Schirrmacher eine massgebliche Persönlichkeit. Über mögliche Kritik hinaus bleibt ihm das Verdienst, die wesentlichen Themen der Zeit angesprochen, moralisch reflektiert, teilweise popularisiert und, über alles gesehen, keineswegs bloss dem Zeitgeist Recht gegeben zu haben. In seiner Karriere als Publizist war ihm dank Förderung der massgeblichen Kreise um die FAZ zu einem frühen Zeitpunkt das Glück hold; sein früher Tod im Alter von weniger als 55 Jahren aber war tragisches Pech. Dies zu einem Zeitpunkt, da er als Analytiker eines noch existierenden deutschen Bürgertums über die FAZ hinaus in fast allen politischen Lagern zitierbar wurde.
 
Dass er beispielsweise die Perspektiven und das Schicksal des deutschen Mittelstands thematisierte, war keine Kleinigkeit. Ist es doch diese Schicht, teilweise wegen Steuerdruck und Versuchung zur Steuerhinterziehung unter schlechtem Gewissen leidend, die sowohl für Deutschland als auch für die Europäische Union den eigentlichen Leistungsmotor, um nicht zu sagen: die Milchkuh, darstellt. Eine Schicht zwar, die sich nicht nur zu beklagen hat. Im Gegenteil: Diese Leute werden immer älter, sind oft im Besitz einer beneidenswerten Gesundheit. Die deutsche Mittelschicht, die in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren jung war mit äusserst erfolgreichen Aussichten, stellt nach Frank Schirrmachers Bestseller die künftige „Methusalem-Generation“ dar. Dieses Thema hat er in seinem wohl bekanntesten und wie regelmässig bei seinen Publikationen auch umstrittenen Buch als „Methusalem-Komplex“ dargestellt. Er sprach in diesem Zusammenhang von einer „Revolution des Lebenslaufs“.
 
Über die „Zukunft des Mittelstandes“ reflektierte er „vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung“. Dass er die Thematik der Demographie, die man in Deutschland lange den Konservativen, den Rechten und zumal den Rechtsaussen überlassen hatte, überhaupt aufgriff, ist verdienstvoll. Über alles gesehen war er, dessen für Elitedeutsche wie häufig umstrittene Dissertation ein Beispiel bleibt für den Bedeutungsverlust des akademischen Lebens, nicht so sehr ein Intellektueller oder gar Philosoph, sondern vor allem, das ist nicht wenig, einer der letzten umfassend belesenen deutschen Bildungsbürger, die es im Journalismus bis an die Spitze brachten. Dahinter steckt die Förderung durch ältere Bildungsbürger wie Joachim Fest und Marcel Reich-Ranicki, welch letzterem er lebenslang dankbar blieb, ihn auch gegen läppische Angriffe von Martin Walser verteidigte. Dass Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers“ in der Frankfurter Allgemeinen nicht vorabgedruckt wurde, trug mit zum Abstieg eines vermeintlichen Jahrhundertschriftstellers bei.
 
So wie Martin Walser im Gegensatz zu seinem älteren Namensvetter Robert Walser gewiss kein Jahrhundertschriftsteller war, konnte sich Frank Schirrmacher als Kulturpessimist seiner Generation nicht mit philosophischen Vorläufern wie Günter Anders, Hans Jonas, Ludger Lütkehaus, Peter Sloterdijk, Hans Magnus Enzensberger, Eduard Kaeser, Dagmar Fenner und anderen messen, aber doch, deren Themen aufgreifend, mit dem „Methusalem-Komplex“ eine Problematik unter die Leute bringend, welche Autorinnen wie Esther Vilar und andere schon länger mit zum Teil ähnlichen Thesen feuilletonistisch aufbereitet hatten. Am wenigsten neu war bei Schirrmacher der Gedanke, dass wir „masslos informiert“ (Karl Steinbuch) seien und dass der Computer bzw. die digitale Welt unser Leben rasant verändern würden. Darüber schrieben die weniger prominenten Schweizer Philosophen Eduard Kaeser und Dagmar Fenner, um nur zwei Beispiele zu nennen, gehaltvoller, fundierter und sich weniger dem Risiko der Geschwätzigkeit aussetzend.
 
Schirrmacher bleibt das Verdienst, bei Fragen, bei denen es sich unbedingt lohnt, die aktuelle Lage charakterisiert zu haben. Das klingt dann, im Ton oft alarmistisch, ungefähr so: „Wer nicht sieht, was auf die Gesellschaft, auf die Wirtschaft, auf den Mittelstand zukommt, ist blind, ist verantwortungslos, der ignoriert nicht etwa Thesen, sondern Fakten.“ Dabei schreckte er vor Banalitäten nicht zurück, wie: Der Mittelstand bleibe zukunftsfähig, wenn er seine Chancen rechtzeitig nutze.
 
Ebenfalls nicht neu war die These: „Es gibt kein Tal der Tränen, das wir durchschreiten können und dann wird alles wieder so wie es vorher war. Es gibt eine völlige Veränderung. Die demografische Entwicklung hat zu 80 Prozent damit zu tun, dass immer weniger Kinder geboren werden, und zu 20 Prozent, dass wir immer älter werden.“ Demografie und Wirtschaft – so die Sicht Schirrmachers – zeigten einen statistisch nachweisbaren Mechanismus: Starke Geburtenjahrgänge sorgen in regelmässigen Abständen für einen Boom in verschiedenen Wirtschaftszweigen: In der Vergangenheit gab es Boomzeiten für Babyartikel und Spielzeug, für Fahrräder und Mofas, schliesslich für die Automobilbranche und die Immobilienindustrie. Jetzt folge dann der Boom mit Angeboten für die älteren Konsumenten. Bisher habe die Situation einem schnell wechselnden Warenlager geglichen, welches ständig neue Nachfrage erzeugt habe.
 
Der späte Schirrmacher hat sich mit seinem Buch mit einem genialen Titel, das nun zu seinem Vermächtnis geworden ist, „Ego oder das Spiel des Lebens“, im Zusammenhang mit der sogenannten Finanzkrise ab 2008 mit der Gambler-Mentalität in Wirtschaft und Politik auseinandergesetzt, welche nach dem Ende des Kalten Krieges das im bisherigen Kapitalismus noch relativ dominierende Leistungsdenken ersetzt habe. Auch der Zerfall der Familie war für Schirrmacher, zweimal verheiratet und zweifacher Familienvater aus erster Ehe, in seinen späten Jahren ein verbindliches Thema. Einige unterstellten ihm, nun ein Linker geworden sein, andere sahen mit Recht, dass in vielen seiner Gedanken und Thesen konservative Substanz steckt, das Alte und Wahre, nämlich dass ein Kapitalismus ohne Kriterien „jenseits von Angebot und Nachfrage“ keine Zukunft habe. So dachte Wilhelm Röpke schon zur Zeit, als Frank Schirrmacher geboren wurde.
 
Frank Schirrmacher hat als Journalist u. a. auch das Verdienst, Günter Grass wegen seiner Vergangenheit bei der Waffen-SS und seinen Vorwürfen an andere mit ähnlichem Lebenslauf bei einem Interview kritisch in die Mange genommen zu haben. „Wenn Exnazis Exnazis Exnazis nennen“ charakterisierte vor 40 Jahren der jüdische Publizist William S. Schlamm, über alles gesehen mutiger als Grass und politisch weniger gemässigt und klar polemischer als Schirrmacher, die einschlägige Problemlage.
 
Schirrmacher erhielt trotz seiner Umstrittenheit als Stilist den Ludwig-Börne-Preis, nicht unverdient, war Börne doch vor allem ein liberaler deutscher Patriot: ein Lob, das Schirrmacher auf seine Weise nicht abzusprechen ist. Mit ihm ist eine der wenigen glaubwürdigen Persönlichkeiten des deutschen publizistischen Establishments dahingegangen. In Zürich und in Berlin versuchen es die Schweizer Martin Meyer (Feuilletonchef der NZZ) und Frank A. Meyer ihm nachzutun, ohne das Prestige und das Gewicht des Jüngsten aus diesem Trio geistvoller Publizisten ganz erreicht zu haben. Die Zeiten scheinen vorbei, da die Frankfurter Allgemeine und die Neue Zürcher Zeitung noch Organe von geistigem Orientierungsgehalt waren, über ihr immerhin gewaltiges Verdienst hinaus, das Geistesleben vergleichsweise am besten abzubilden.
 
Die Vermutung, dass Frank Schirrmacher zu einem Zeitpunkt gehen musste, da man ihn am notwendigsten gebraucht hätte, liegt nahe. Man wird, nicht nur in Deutschland, einen vergleichsweise so geistvollen Menschen wie ihn über Jahre hinaus vermissen.
 

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