Textatelier
BLOG vom: 18.06.2014

Roger Lille: Autor, Theaterpädagoge und Kulturvermittler

Autor: Pirmin Meier, Historischer Schriftsteller, Beromünster LU
 
 
Roger Lille, geboren am 17. August 1956 in Zofingen, verstorben am 10. Juni 2014 in Aarau, ursprünglich Aargauer Sekundarlehrer, zuletzt Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz, war ein bedeutendes Autorentalent, hauptsächlich aber ein Mensch, für den das Theater wie kaum etwas anderes Lebensinhalt wurde. Beruflich kulminierte seine Karriere als Kulturvermittler, auch als Lehrer und Berater für das Theater. Dabei präsentierte sich Lille in den neunziger Jahren und 2000 als beachteter Theaterautor, so mit dem beeindruckenden Stück „Schuhwerk“, welches 1994 bei Bally in Dottikon AG aufgeführt wurde, und „Tabaklager“, welches in der Tradition von Hermann Burger in Menziken AG im Stumpenland zur Aufführung kam. Nach einer Talentprobe, für die ihm das Schauspielhaus Zürich zur Verfügung stand, fand er einen vergleichsweise schönen Erfolg im Schauspielhaus Essen für sein Stück „Südwärts“. Dort hatte in den fünfziger Jahren Heinz Dietrich Kenter gewirkt, der grosse Professor, Regisseur und Schriftsteller noch aus dem Geist des Expressionismus, u. a. mit der Welturaufführung des Stücks „Innozenz und Franziskus“ von Reinhold Schneider.
 
Kenter, ein später Repräsentant des Expressionismus und hervorragendster Vorleser von Theaterstücken, wurde jedoch zuletzt Theater-Professor, blieb als Theaterautor weniger in Erinnerung: ein biographisches Moment, das wohl auch bei Roger Lille zutrifft. Das Stück „Südwärts“ greift mit dem Motiv der Identität eines ins Koma gefallenen Freundes ein Thema auf, das einige Jahre später beim erfolgreichsten Buch von Martin Suter „Ein perfekter Freund“ höchste Aufmerksamkeit fand. Eine Wiederaufführung als Hommage auf Roger Lille würde sich mutmasslich lohnen.
 
Die Herkunft aus der protestantisch-liberalen Literaturstadt Zofingen hat Roger Lille mit seinem um fast 20 Jahre älteren Kollegen Hansjörg Schneider gemeinsam. Und wie Schneider publizierte er gute Prosatexte in den Zofinger Neujahrsblättern, seit weit über 100 Jahren eine exquisite Kulturpublikation. Der Name Lille steht, wie der Name Ringier, wenngleich weniger bekannt, für frankophone Wurzeln der Zofinger Publizistik.
 
Als Erzähler publizierte Roger Lille 1994 bei Egon Ammann den Prosaband „Fundstücke“, zum Teil mit Texten, die er in Klagenfurts Talentschmiede vorgetragen hatte. Genial das Erzählmotiv, ein Fenster zu öffnen, um durch einen hereindringenden Sandsturm die Wohnung des Protagonisten verwüsten zu lassen. „Leider kann dieser Zauber nicht über alle Erzählungen gehalten werden“, vermerkte ein Leser als Amazon-Rezensent. Als Autor scheint Roger Lille dem Schicksal des ewigen Talents nicht ganz entgangen zu sein. Kam dazu, dass das Nebeneinander Lehrer – Kulturschaffender im neuen Jahrhundert nicht einfacher, sondern schwieriger wurde. Es war keine Kleinigkeit, nachgerade ein grosses Verdienst, die Beratungsstelle Theaterpädagogik des Kantons Aargau zu leiten, die dann in die Fachhochschule Nordwestschweiz überging. Hier hat sich Roger Lille, zumal als professioneller Kulturvermittler, nicht leicht durch einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin zu ersetzende Verdienste erworben.
 
Dass Roger Lille, der u. a. zusammen mit Hannes Leo Meier auch im Aarauer Theater Tuchlaube markante Spuren gelegt hat, schon vor dem 58. Geburtstag einer schweren Krankheit erlegen ist, erinnert schmerzlich an den kürzlichen Heimgang des ebenfalls in Aarau wohnhaft gewesenen Virgilio Masciadri. Auch Hermann Burger, der geniale Aargauer Schriftsteller schlechthin, gehört zu den früh Vollendeten. Alle drei Autoren sind zeitlebens einem „bürgerlichen“ Beruf nachgegangen, wobei Roger Lille auf diesem Gebiet wohl die stabilste Anstellung fand, verbunden mit beeindruckenden Verdiensten, während der von Neidern behinderte Masciadri und der aufgrund psychischer Störungen beim Aargauer Tagblatt entlassene Burger ihre höchste Vollendung in der Autorschaft fanden. Roger Lille hat sich einen soliden Platz in der neueren Kulturgeschichte des Kantons Aargau erarbeitet. Sein früher Hinschied hinterlässt eine schmerzliche Lücke.
 
Zu den späten eindrücklichen Leistungen von Roger Lille gehörte die szenische Darstellung „Stationenweg“ als Geschichte der sogenannten Wohltätigkeit in Aarau. Die unkonventionelle historisch-didaktische und zugleich dramaturgische Darstellung geriet zu einer Hommage an den aus Magdeburg eingewanderten Gross-Aarauer Heinrich Zschokke, den Pionier sozialer Eigeninitiative. Darüber schrieb mein Publizistenkollege Walter Hess, Biberstein AG, in einer liebevoll formulierten Kolumne:
 
„Das Stationentheater „Wohltäter“, das zum 200-jährigen Bestehen der Kulturgesellschaft des Bezirks Aarau inszeniert wurde, führte durch verschiedene gottverlassene Winkel der Aarauer Altstadt, in die der Normalsterbliche kaum hinkommt. In einer ständig wechselnden Kulisse zwischen Gemäuer und unter Lauben bei Einbezug der Innenstadt-Bewohner und von Passanten wurde von der lockeren Schauspielergruppe „Szenart“ originell und weniger original dargestellt, wie die Kulturgesellschaft (genau: Gesellschaft für vaterländische Kultur im Kanton Aargau) zwischen 1811, 1911 und 2011 ihre segensreichen, gemeinnützigen Hilfsaktionen aufzog, gelegentlich ohne das Helfersyndrom hinreichend im Zaume halten zu können. Dem in Aarau ansässigen Autor Roger Lille, der sich das alles ausgedacht hatte, kam es nur zum Teil auf historische Detailtreue an; denn er wollte vor allem einem unterhaltsamen Abend gewährleisten, bei dem auch einmal über die Schnüre der Zeitgerechtigkeit geschlagen werden konnte. Das ist vollauf gelungen.
 
Immerhin erhielten die Theaterwanderer, die Klappstühle mit sich trugen und die Klappe zu halten hatten, einen lebendigen Eindruck von den Zuständen im jungen, 1803 gegründeten Aargau, der seinerzeit noch nach Visionen suchte. Die treibende Kraft war Heinrich Zschokke (1771‒1848) gewesen, welcher es am Graben zu einem wuchtigen, überlebensgrossen Denkmal auf einem marmornen Sockel gebracht hat, das in Szenentheater einbezogen wurde und auf das der clowneske, schwindelfreie Conférencier (Markus Fricker) hinaufkletterte.“
 
Das Spiel und Beispiel zeigt eindrücklich, wie sich der verstorbene Roger Lille, verheiratet gewesen mit der Psychotherapeutin Alice Dora Lille, im besten Sinn als „Kulturvermittler“ verstand.
 
Zu seinem Vermächtnis würde ich den Abschluss eines Referates zählen, in dem er sich über weite Strecken der mühsamen Diktion und den Ansprüchen der modernen Didaktik beugte, um dann am Ende aus seinem Herzen keine Mördergrube zu machen. Originalton Roger Lille:
 
„Sie haben’s gemerkt: Da spricht einer, der, ach, ein Herz und eine Seele in seiner Brust trägt. Der Herzschlag richtet sich nach den Zeichen der Zeit, da ist forsches forschendes Fragen gefragt, und ich nehme sehr wohl veränderte Bedürfnisse wahr. Ich bin aber auch Kind meiner Zeit, theaterpädagogisch aufgewachsen mit dem Credo des eigenen Spielens, meine Seele gehört der Kunst.
 
Ich glaube noch immer an die Kraft des Theaters und an die Wirkung von Spiel ja und da bin ich nun also beim Glauben angelangt, und damit meilenweit von jeglichem Wissen entfernt… Aber womöglich bewahre ich mir damit ein Stücklein künstlerischer Narrenfreiheit. Und vielleicht schadet es nicht, wenn einer ein bisschen zögerlich ist und dem vorherrschenden Trend ein ‚gemach‘ entgegenstellt. In diesem Sinne, als Antipode zum allgemeinen Gang der Dinge, in Anlehnung an Pina Bausch: Spielt, spielt, spielt, sonst sind wir verloren.“
 
 
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