Textatelier
BLOG vom: 22.07.2014

Erika Burkart: „Als Mensch loslassen, als Autor festhalten”

Autor: Pirmin Meier, Historischer Schriftsteller, Beromünster LU, zu Erika Burkarts später Prosa
 
 
Erika Burkart, am 14. April 2010 hochbetagt im aargauischen Gnadenthal verstorben, einer mittelalterlichen Klostergründung der Königin Agnes von Ungarn, heute Pflegezentrum, hat mit ihrer dichterischen Existenz eine für eine moderne Schweizer Autorin fast beispiellose „Stabilitas loci“ (Ortstreue) praktiziert.
 
Geboren am 8. Februar 1922 in einem zum Gasthaus umfunktionierten ehemaligen Äbtehaus des Klosters Muri, hat sie fast lebenslang dort gelebt, die Geschichte dieses Hauses noch und noch in Literatur umgewandelt, am schönsten vielleicht in ihrer Autobiographie „Der Weg zu den Schafen“, aber auch mit ihrer einzigartigen Lyrik, die indes wenige Verse produziert hat, welche man in der Schule auswendig lernen würde. Dazu war ihre Weltsicht vielleicht eine Spur zu esoterisch. Es bleibt aber dabei, dass Erika Burkart gerade mit ihrer Stabilitas loci Beheimatung und Unbehaustheit (vor dem Hintergrund eines chaotischen Vaters) wie wenige zu gestalten wusste. Dabei war ihr weltläufiger Vater Walter Burkart als Verfasser des abenteuerlichen Reisebuches „Der Reiherjäger von Gran Chaco” (1962), von dem auch eine SJW-Kurzfassung erstellt wurde, auf seine Weise eine faszinierende, wenn auch schwer zu fassende Persönlichkeit gewesen. Dass Erika Burkart sich indes lange nicht als professionelle Schriftstellerin sah, sondern als Lehrerin praktizierte, u. a. dargestellt im Prosaband „Die Vikarin“, ist einigermassen typisch nicht nur für die Bildungsgeschichte einer Frau und Autorin in der Schweiz, wenn man sich etwa an die Schaffhauser Lehrerin und Schriftstellerin Ruth Blum erinnert. Die Schulstube war indes für Erika Burkart auch nicht das ihr gemässe Reich, so wie ihre Darstellung eines einstigen Lehrerinnenseminars als das Gegenteil einer Idealisierung zu lesen ist.
 
Ihre Weltsicht als Lyrikerin, Romanschriftstellerin und Verfasserin poetisch-reflexiver Prosa ging vom „Haus Kapf” aus, der ehemaligen Sommerresidenz der Äbte des Klosters Muri. Hier hatte ihr weitgereister Vater gewirtet, die Mutter ein Zubrot mit textilem Werken verdient. Es entstand ein lyrisches und erzählendes Werk von Rang. Hier lebte sie mit ihrem Mann, dem Autor und Lektor Ernst Halter, dem sie am 23. Juni 1967 erstmals begegnet war. Das Haus Kapf wurde ein Art aargauischer Parnass. Autoren und Literaturförderer wie Hermann Burger, Klaus Merz, Hilde Domin, Markus Hediger, Dieter Fringeli, Erwin Jaeckle, Carl Seelig, Arnold Stadler und noch andere gingen hier ein und aus. „Trostlos schön” in spätherbstlicher oder winterlicher Stimmung war fast jede Begegnung mit Erika Burkart. Einem Gespräch mit ihr waren in der Regel enge zeitliche Grenzen gesetzt: eine mitunter anstrengende, aber nachhaltige Erbauung. Ich hatte das Gefühl, einer modernen Sibylle zu begegnen, zugleich einer der gebildetsten Frauen des Landes. Jedes Wort von ihr hatte, bekam Gewicht. Keineswegs bevorzugte sie es, ihr eigenes Werk ins Gespräch zu bringen. Lieber zitierte sie mit Empathie französische Autoren wie Roland Barthes. Über Goethe zu staunen verlernte sie nie. Die „Wahlverwandtschaften” las sie, wie ihren von Ernst Halter endredigierten letzten Aufzeichnungen zu entnehmen ist, insgesamt viermal. Ihre Prosa mutet an wie eine Erneuerung des Tagebuches von Ottilie. Dies bedeutete zeitlose Meisterschaft, aber auch bleibende Distanz vom geschwätziger gewordenen Literaturbetrieb seit der Jahrtausendwende.
 
Die ehemalige Lehrerin fand zu dosierter Zeitkritik. „Einzuführen in allen Schulen wäre das Fach Zusammenhänge”, monierte sie, kritisierte im Zusammenhang mit Lehrplanreformen einen „pädagogischen Jargon, der alles im Unklaren lässt; schulmeisterliche Pedanterie so weit getrieben, dass man letztlich nichts mehr sieht und begreift.”
 
In den fünfzehn Hauptabschnitten aus insgesamt 24 nachgelassen Heften dominiert über die Erinnerung hinaus die Reflexion über die Erinnerung: „Die Erinnerung ist die Geschichte des inneren Menschen.” So haben auch Augustinus und Meister Eckhart die „memoria” verstanden, eine Tugend, die eng mit der „docilitas”, der Belehrbarkeit sowie der „sollertia”, der Tapferkeit beim Ertragen der Wahrheit zusammenhängt. Damit ist wohl die bedeutendste Stärke dieses letzten, möglicherweise nicht mehr zur Veröffentlichung vorgesehenen Prosawerkes von Erika Burkart angedeutet.
 
Zu den stärksten Erzählungen gehört die Reminiszenz an die Sonnenfinsternis vom 11. August 1999. Die Schilderung markiert, von der Beobachtung der Vögel abgesehen, grösstmöglichen Abstand zur grandiosen Sprachmalerei von Adalbert Stifters berühmtem Feuilleton zum selben Thema, zumal in Muri der Himmel damals völlig verhängt war. Diese verhängte Sonnenfinsternis wird bei Erika Burkart zu einer Art Breughel-Bildnis vom „Verhüllten Tag”. Eine Vision des Abschieds im „kaltgrauen Zwielicht”. Zehn Minuten eines „acherontischen Grauens” angesichts einer Sonnenfinsternis gehören, nebst dem Tod der Schwester und dem Selbstmord einer dichtenden Berufspatientin (Marianne Hauri-Zwahlen) zu den wenigen Ereignissen, die aus Burkarts letzten Lebensjahren noch zu berichten sind.
 
Nur selten laufen die Texte Gefahr, in Patientenprosa einer Leidenden auszuarten. „Schwelende Erinnerungen, zugedeckt vom Unrat des täglichen Abraums”, will man von einer Schillerpreisträgerin lieber nicht lesen. Überwunden werden diese Mühseligkeiten durch kritische Beobachtungen, Träume, Aphorismen: „Jugend und Alter haben das Lügen am nötigsten.” Oder: „Wie kurz das Leben wird, wenn es lange währt.”
 
Wir werden Zeugen, wie eine Dichterin sich ihrem Tod entgegenschreibt, indem sie, die Freundin der Blumen und der Schafe, trotz allem das Leben beschwört. Der vermeintliche Widerspruch geht vom Dilemma aus, dass die alte Frau als Mensch zwar lernen müsse, loszulassen, als Autorin aber zum Festhalten verpflichtet sei. Die Frage aller Fragen aus dem „Parzival“, “was leidest du?” führt zu einer Sprache, die entgegen einem nicht nachvollziehbaren Glaubensbekenntnis über das Gebet reflektiert. „Ich denke, es soll unser innigstes Bestreben sein, dem Schöpfer eine reine Seele zurückzugeben.” Diesen Satz hat die Dichterin nicht bloss formuliert, sie hat ihn gelebt.
 
 
Literaturhinweis
Erika Burkart: „Am Fenster, wo die Nacht einbricht. Aufzeichnungen“, Limmat Verlag Zürich 2013.
 
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