Textatelier
BLOG vom: 08.10.2014

Siegfried Lenz: „Vorbild“, Repräsentant literarischer Moderne

Autor: Pirmin Meier, Historischer Schriftsteller, Beromünster LU/CH
 
Siegfried Lenz, geboren am Tag von St. Patrick (17. März) 1926 in Lyck (Ostpreussen), verstorben am 7. Oktober 2014 in Hamburg, war einer der erfolgreichsten zeitgenössischen deutschen Nachkriegsautoren aus dem Umfeld der Gruppe 47. Lenz gehörte dieser Kampfgruppe der literarisch-politischen Moderne über die längste Zeit ihres Bestehens an. Wie stark der gern als Pfeifenraucher ins Bild gebrachte Autor auch bei einem jüngeren Publikum ankam und wie wichtig seine Beiträge für das Deutschland der Nachkriegszeit geblieben waren, beweist der ihm 2001 überreichte Weilheimer Literaturpreis, der von einer aus Gymnasialschülern gebildeten Jury zugesprochen wird. Die Idee geht auf den bekannten Literaturförderer Friedrich Denk zurück, jahrzehntelang Herausgeber der bekannten Weilheimer Hefte.
 
Der berühmte Autor Lenz erhielt noch bedeutendere Literaturpreise, etwa den dieses Jahr an Peter von Matt und einst sogar an Ernst Jünger vergebenen Frankfurter Goethepreis, auch den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, den Jean-Paul-Preis, der u. a Friedrich Dürrenmatt und Thomas Hürlimann zukam und zu seinen Anfangszeiten den Kulturpreis der Landsmannschaft Ostpreussen, eine Hommage an seine Herkunft. Als in den siebziger und achtziger Jahren das Motiv Heimat wieder vorurteilsfrei darstellbar wurde, veröffentlichte Lenz einen seiner drei bis vier bedeutendsten Romane: „Heimatmuseum“. Das Motiv hatte er schon in den fünfziger Jahren aufgenommen, ein Porträt der Masuren mit einem Titel, bei dem man das nicht erwartet hätte: „So zärtlich war Suleyken.“ Die romanhafte Erzählung schaffte es, wie die meisten wichtigen Werke von Lenz, auf die deutsche Bestsellerliste. Auch in der Schweiz und in Österreich brachte er es zum viel gelesenen Schulautor.
 
Als seine Vorbilder bezeichnete Lenz gelegentlich Lew Nikolajewitsch Tolstoi und Jean Paul; dem Duktus seines Schaffens standen Wolfgang Koeppen und Heinrich Böll näher. Wie Böll, um den es nach seinem Tod seltsam ruhig geworden ist, war auch Lenz in den vergangenen Jahren nicht mehr der Mann der Stunde, wiewohl sein 85. Geburtstag im Fernsehen eindrücklich stattfand. Trotzdem mutet die Todesmeldung des 88-Jährigen nach einer Nachricht an, als würde man sich wundern, dass dieser für die fünfziger bis achtziger Jahre bedeutende Autor im Jahre 2014 noch am Leben war. Im Februar 2014 hat er seinen Nachlass fürs Literaturarchiv in Marbach fertig gemacht, es war offensichtlich hohe Zeit.
 
Am bekanntesten wurde Siegfried Lenz durch seinen Bestseller „Deutschstunde“, bei dem er sich in der Tradition des „Untertan“ von Heinrich Mann eines falschen Pflichtbegriffs annahm, ausgehend von einem läppischen, 1951 von einem jungen Mann zu schreibenden Strafaufsatz mit dem Titel „Die Freuden der Pflicht“. Auch in der Schweiz, und zwar im Kanton Aargau, mussten in jenem Jahrzehnt noch Strafaufsätze wie „Eine verdiente Ohrfeige“ geschrieben werden. Über den bei Lenz genannten Aufsatz wurde Kants ethisches Lebensthema von der Pflicht nachträglich auf den Nationalsozialismus retroprojiziert; ein Klischee, das in sechziger Jahren bis 1968 in allerdings fehlerhafter Analyse zur Kritik an den sogenannten Sekundärtugenden führte. Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit, Genauigkeit usw. sind Tugenden, deren Propagierung nicht vom Nationalsozialismus erfunden wurde; deren Missbrauch zu jener Zeit gab aber dann Anlass zu einer Debatte, worüber man in der DDR und wohl sogar auch in der Schweiz nur den Kopf geschüttelt hätte. Über die Pflicht hat sich im selben Jahrzehnt wie Lenz der Schweizer Suhrkamp-Autor E.Y. Meyer in seinem Kant-Roman „Im Trubschachen“ ausgelassen, jedoch ohne den Nationalsozialismus für eine nachträgliche Kritik an Kant zu bemühen.
 
Gegen die Verteufelung der sogenannten Sekundärtugenden hat sich dann der Philosoph Hermann Lübbe verwahrt, der wie Siegfried Lenz von sich sagte, über seine Karteimitgliedschaft bei der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter-Partei nicht informiert gewesen zu sein beziehungsweise sich nicht daran zu erinnern.
 
„Deutschstunde“ bleibt nichtsdestotrotz einer der bedeutenden Romane seiner Zeit, mit vielfältiger Längs- und Seitenwirkung, obwohl die Behauptung nicht zutrifft, die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands habe mit diesem Roman begonnen. Reinhold Schneider, Wolfgang Borchert und viele andere haben schon kurz nach Kriegsende höchst eindrücklich und zum Teil nachhaltiger als die Gruppe 47 gesagt, was Sache ist.
 
Ein Stück handfester Erzählkunst ist Siegfried Lenz‘ Roman „Das Vorbild“, worüber der Pädagoge und Journalist Josef Rennhard, Chefredaktor des Beobachter, 1978 bei einer internen Schulweiterbildung an der Bezirksschule Leuggern ein hervorragendes Referat hielt. Rennhard hatte sich damit auseinandergesetzt, weil er für die Schullesebücher der Kantone Aargau, Solothurn, Zürich usw. damals massgebliche Verantwortung für die Auswahl der Texte trug.
 
Josef Rennhards Vortrag über Lenz wurde ein Beispiel, wie man durch eine glänzende Vorstellung eines literarischen Werkes zum Lesen animieren kann; zumal aufzeigen, dass Romane und Erzählungen in pädagogischer Hinsicht oftmals mehr bringen können als mit Fremdwörtern gespickte didaktische Lehrbücher. Siegfried Lenz, der in den siebziger Jahren wie Günter Grass vor allem als Propagandist der SPD aufgefallen war, erschien mir zuvor lange als ein Durchschnittsautor für Gleichgesinnte, wiewohl er sich anfangs der fünfziger Jahre mit einem Buch über den Mau-Mau-Aufstand in Kenia hervorgetan hatte; ein Thema, das mich damals mehr interessierte als deutsche Innenpolitik aus der Sicht der SPD.
 
„Das Vorbild“ ist aus meiner Sicht heute noch der inhaltlich bedeutendste Roman von Lenz, weil er die generationenlange Prägung von Mentalitäten durch Schullesebücher thematisierte, was heute zwar bei weitem nicht mehr so gilt wie bei den Generationen ab 1850 bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts. So ist zum Beispiel in der Schweiz der Bauernschriftsteller Alfred Huggenberger (1867–1960) in seiner später als deutschfreundlich verschrieenen Haltung wesentlich durch die im Thurgau gängigen Lesebücher nach 1870 geprägt worden, was auf seine und seiner Generation Einstellung zum 1.Weltkrieg Einfluss gewann.
 
Bei Lenz ging es um die Frage, was heute in ein Lesebuch kommen sollte, was von den Protagonisten, einem Lehrer alter Schule, einem neueren Lehrer und einer Lektorin abgehandelt wird. Darüber hinaus geht es, wie Josef Rennhard auszuführen verstand, noch ganz generell um die „Vorbildlichkeit“ nicht nur von Texten, auch um die von Menschen. Zuletzt stellte sich die heikle Frage, wie weit heute ein Lehrer, eine Lehrerin, noch als Vorbild „dienen“ kann. Der Einfluss, den man hat, ist, wie ich aus 38-jähriger Lehrerfahrung sagen darf, grösser, als man als Lehrer im Moment, da man sich oft ärgern muss, denkt.
 
Ich wundere mich nicht darüber, dass einer der besten Gymnasiallehrer Deutschlands, Friedrich Denk, später mit Lenz zusammen gegen die Orthographiereform engagiert, diesen Autor zu den guten und lesenswerten Schriftstellern der modernen deutschen Literatur zählte. Auch bei Mario Andreotti, dem führenden Literaturdidaktiker der Schweiz, ist in der soeben erschienenen 5. Auflage von „Die Struktur der modernen Literatur“ (Verlag Haupt) Lenz nach wie vor ein Repräsentant literarischer Modernität. Der Begriff wird nach präzisen und nachvollziehbaren Kriterien aufgearbeitet.
 
Siegfried Lenz war ein mit dem deutschen Schicksal verbundener Autor, der sich zu allen Zeiten seines Schaffens seiner Zeit gestellt und zu den Fragen dieser seiner Zeit Antworten vorgeschlagen hat. Wie weit seine Romane künftigen Generationen von Schülerinnen und Schülern noch zumutbar sind, muss offen bleiben. An Substanz übertreffen sie die Kolportage eines Bernhard Schlink („Der Vorleser“) wohl bei weitem, doch zog ich in den letzten Jahren meiner Lehrtätigkeit „Jakob der Lügner“ von Jurek Becker klar vor. Als Hochgebirge der Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus kann die entsprechende Tal- und Höhlenschau von George Orwell, Alexander Solschenizyn und Imre Kertesz gelten, nicht zu unterschätzen auch „Der Sturz“ von Friedrich Dürrenmatt und „Biedermann und die Brandstifter“ von Max Frisch.
 
Nachdem nun aber Martin Walser in späten Jahren der Altersgeschwätzigkeit nicht ganz entgangen ist und Günter Grass als enttarnter moralistischer Heuchler dasteht, durfte Siegfried Lenz als einer der glaubwürdigsten verbliebenen Autoren seiner Generation gelten. Der Verdacht, dass seine bedeutende Leistung eher zurückliegt und nicht unbedingt der Zukunft gehört, ändert nichts an einer imponierenden publizistischen Ausstrahlung in die Zeit hinein. Was freilich auf Dauer bleiben dürfte, hat mit den Wurzeln zu tun.
 
Der Schriftsteller, dessen man gedenkt, ist am Ende oft ein Heimatschriftsteller. Der Tag wird kommen, da man in Ostpreussen an Autoren wie Siegfried Lenz zurückdenken wird, stärker als beim ersten Erscheinen seiner Texte über die Masuren, einer immer noch fast vergessenen europäischen Landschaft.
 
 
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