Textatelier
BLOG vom: 12.10.2014

An der OLMA vereint und verwandt: St. Gallen und Luzern

Autor: Pirmin Meier, Historischer Schriftsteller, Beromünster LU/CH
 
 
Die „lobliche und zierliche Statt Lucern“, wie vor 420 Jahren von ihrem Stadtschreiber Renward Cysat vorgestellt, hat vieles hingekriegt. Zum Beispiel 1952 die Weltausstellung für Fotografie mit dem berühmten „Fototurm“ am See.
 
Meine Tante Rosina Frei aus Würenlingen AG, eine Hebamme, welche damals halb Luzern mit zur Welt verholfen hat, zeigte uns Knirpsen die Aussicht. Die starke St. Anna-Schwester gab in ihrer Eigenschaft als Tante auch Hans Peter Fagagnini aus Gossau SG den Tarif durch. Mein Cousin war in der Ära Kurt Furgler CVP-Generalsekretär. Als dynamischer St. Galler in Luzern gilt der ehemalige Vorsitzende der Gesundheitsdirektorenkonferenz, Dr. med. vet. Markus Dürr, wohnhaft in Malters LU, wo eine dörfliche Gaststätte noch Einschusslöcher vom Sonderbundskrieg vorweisen kann. Der Bürger von Gams SG, jetzt Verwaltungsratspräsident der SUVA, gilt leicht übertrieben als Luzerner Verschnitt zwischen Furgler und Christoph Blocher.
 
Eine OLMA hat Luzern nicht geschafft. Die Frühlingsmesse LUGA, seit 1980, hat noch weniger Tradition als die in der Zentralschweiz kaum geniessbare St. Galler Fasnacht. Sonst aber mutet vieles ähnlich an. Nicht nur der FCL und der FCSG. Ein dritter Rang in der Meisterschaft wäre für beide das höchste der Gefühle. Hausberge wie Säntis und Pilatus sind weder das Matterhorn noch die Jungfrau-Region. Aber der Pilatus bleibt das zutiefst magische Gipfelungetüm der Schweiz. Wenigstens dann, wenn man den Berg, wie 1519 St. Gallens Bürgermeister Joachim Vadian, von der „Hinterseite“ entdeckt, nämlich zu Fuss über das Eigental oberhalb von Kriens LU. Auf dem Weg dorthin käme man bei der Wallfahrtskirche Hergiswald vorbei mit den unvergleichlichen 200 Deckenbildern. Statt einer Stiftsbibliothek ein Lexikon der Symbole zum Anschauen.
 
Die OLMA verdankt ihre Popularität der Verbindung von Stadt und Land, dem jahrhundertealten Gegensatz, der die Schweiz erhält. Was das Toggenburg für St. Gallen, ist das Entlebuch für Luzern. Einst Hort von Verschwörungen und bäurischen Bewegungen für kommunale Selbständigkeit. Heute Hochburg der neukonservativen SVP und der altkonservativen CVP mit berechenbarem, manchmal dickköpfigem Abstimmungsverhalten. Also eher wie Innerrhoden als Paul Rechsteiners St. Gallen und die fast SVP-freie Zone Luzern.
 
Entlebuchs Bauernführer wurden hingerichtet. Der Toggenburger Zwingli war der Reformator der Schweiz, mit Wirkung auf die Stadt St. Gallen. Diese wurde reformiert. Die Reformation beflügelte St. Gallens wirtschaftlichen Aufstieg und unterdrückte die Fasnacht, in Luzern Ausdruck orgiastischer Lebensfreude mit südlichen und nordischen Elementen.
 
Auch dank des Pioniergeists der protestantischen Leinwandherren hat St. Gallen eine nach der Wirtschaft orientierte Hochschule. Die an der Seite des Pionierbaus KKL (Kultur- und Kongresszentrum) aufblühende Luzerner Universität orientiert sich nach dem Motto „Staat – Gesellschaft – Religion“, wie ihr Ostschweizer Rektor aus der Gründungszeit, Markus Ries, bis zum Sommer 2014 Dekan der Theologen, kürzlich bei einer Tagung in Rapperswil nahelegte. Eine geforderte Wirtschaftsfakultät wird sich zu St. Gallen verhalten wie die LUGA zur OLMA. Also nicht bedingungslos weltberühmt.
 
Wie St. Gallen soll auch das einstige Fischerdorf Luzern von irischen Mönchen zum Glauben missioniert worden sein. Im Wappen von Kriens, Ortspatron Gallus, macht sich ein gezähmter Bär breit. Kickt Luzern gegen Kriens, entspricht dies dem Derby FC St. Gallen gegen Wil. An St. Gallens 3:11-Blamage (2002) erinnert man sich schweizweit besser als an den länger zurückliegenden 2. Villmergerkrieg. Jener Krieg mit Toggenburger Wurzeln (1712) führte zum Abstieg Luzerns als eidgenössischer Vorort.
 
Immerhin lebt heute jedes vierte Schwein in der Schweiz im Kanton Luzern. Die Mehrheit der Bevölkerung ist dem Produkt Wurst noch nicht abgeneigt. Auch sollte man die im Gegensatz zum liberal-reformierten St. Gallen verspätete Industrialisierung nicht unterschätzen, mit Schwerpunkten in Emmen und Ebikon, nicht zu vergessen das Suhrental mit der TRISA. Eine im Export bewährte Hochburg von Bürsten und Haushaltgeräten, notabene als traditionsreicher Familienbetrieb. Luzerns Detaillistenverband unter der Führung seines Präsidenten Heinz Bossert unterscheidet sich von vergleichbaren Organisationen durch weniger Angst vor politischem Profil. Menschliches Wirtschaften beruht auf Kleineren und Mittleren Unternehmen (KMU). Nicht jeder Furz der Globalisierung, etwa die 24-Stunden-Gesellschaft, muss mitgemacht werden.
 
Beromünster, einstiger Sendeort geistiger Landesverteidigung und volkstümlicher Musik, man denke an Jodler Franz Stadelmann und Akkordeonistin Claudia Muff, ist mit Gallus als Vizepatron ebenfalls ein Bärenflecken. Zu Markttagen kann man nach wie vor „Bärendreck“ kaufen. Die Wurzeln des Stifters, des Grafen Bero, verweisen ins St. Gallische Schänis. Beromünsters Stiftsbibliothek ist im Vergleich zur St. Gallischen klein, aber fein. Sie bewahrt die fünf ältesten Schweizerdrucke auf. Statt dem St. Galler „Abrogans“ den Münsterer „Mammotrecus“, ebenfalls ein Wörterbuch. In Sachen Bildung lebt man nicht auf Bäumen, obwohl der Engländer Walter Scott bei seiner Schweizer Reise die ländlichen Luzerner bei Ruswil „Natives“ nannte, also „Eingeborene“.
 
Luzerns berühmtester Werbemann nach dem einstigen Stadtschreiber Renward Cysat, Kurt H. Illi, setzte auf Japanerhochzeiten und Events für Araber. Letzteren garantierte er bei einem dreitägigen Aufenthalt „mindestens einen Tag Regen, sonst Geld zurück“, womit Luzern als „Schüttstein der Innerschweiz“ angesprochen ist. Das Hotel Schweizerhof war schon 1857 von Russen übervölkert. Der Graf Tolstoi nahm Anstoss daran, dass er im Lande Rousseaus keinen Aargauer Bänkelsänger ins Nobelhotel zum Champagner einladen durfte. Hier feierte 1915 der spätere Nobelpreisträger Carl Spitteler mit Bundesrat und Stadtregierung seinen 70. Geburtstag. Die politische Besinnung des Dichters „Unser Schweizer Standpunkt“ interessierte niemanden. Wer klug schreibt, wird vielleicht im Geschichtsbuch zitiert.
 
„Ohne den Kanton Luzern ist mir die Eidgenossenschaft die innere und äussere Tartarei“, formulierte der auf seine Art kluge konservative Nationalrat Philipp Anton von Segesser (gest. 1888) den damaligen Kantönligeist. Der Philosoph Ignaz P. Vital Troxler gab 1848 mit seiner Neujahrsschrift das Programm des Zweikammersystems mit dem Ständerat, als dessen erste Präsidentin die Luzernerin Josi Meier fast alle anderen Mitglieder geistig überragte. Ausser SBB-Pionier Josef Zemp, dem ersten katholisch-konservativen Bundesrat, angeblich mit Zigeunerblut, konnten die Luzerner Bundesräte dem St. Galler Staatsmann Kurt Furgler das Wasser nicht reichen. Kaspar Villiger will es sich nicht leisten, wieder in seiner Stumpenland-Gemeinde Pfeffikon LU zu leben, wo man heute kaum mehr einen Einwohner zur Gemeinderatskandidatur überreden kann. Ein Beispiel für den vor unseren Augen ablaufenden Zerfall freisinnigen Gemeingeistes. Das war vor 1848 anders: Als der Luzerner Revolutionär und Frauenarzt Jakob Robert Steiger am 3. Mai 1845 zum Tode verurteilt worden war, sammelte man in St. Gallen Unterschriften gegen dieses Bluturteil. In Luzern empörten sich Frauen, „Pfefferweiber“ genannt. Ein imponierender Schritt in Richtung Bundesstaat, freundeidgenössische freiheitliche Solidarität.
 
Wenn es in der Schweiz zwei innerlich verwandte mittelgrosse Kantone gibt, so sind es Luzern und St. Gallen. Nicht gerade Schwestern, ausser in der Eigenschaft als Nehmerkantone im eidgenössischen Finanzausgleich, zur Kompensation von Zentrumsfunktionen, nicht zu vergessen die Hochschulen. Sonst sind sie eher wie Cousinen. Sie mögen einander, halten den richtigen Abstand ein. Bei einer Luzerner Gemeindeversammlung wird St. Galler Dialekt schnell mal als vorwitzig empfunden. Ein besserwisserischer Prokurist musste sich deswegen sogar mal äffen beziehungsweise „auszännen“ lassen, wie ich im Luzerner Seetal beobachtete. Aber eigentlich mag man die St. Galler, obwohl sie für Hornviehfutter „Grääs“ sagen statt „Graas“. Das klingt bei weitem weniger kurios als das Luzernische „rüüdig“, eigentlich räudig, aussätzig. Beim gegenseitigen Necken darf man sich für quitt erklären.
 
 
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