Textatelier
BLOG vom: 23.02.2016

Demokratie – Eine europäische Baustelle?

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Beromünster LU/CH


Zu „Parlament – Ort der politischen Entscheidung?“, einem Standarwerk von Dr. iur., Dr.phil. und lic. theol Quirin Weber, einem in der Schweiz von heute wegweisenden Staatsdenker. Angesichts der Abstimmung über den Verbleib Grossbritanniens in der europäischen Union behält das zu Beginn dieses Jahrzehnts gedruckte Werk mit hohem politisch-rechtlichem Orientierungsgehalt seine Aktualität.

Der in Muri AG lebende Jurist, Historiker, Philosoph und Theologe Quirin Weber, in früheren Jahren als politischer Redaktor im Aargau und beim Schweizerischen Handels- und Industrieverein (heute: economiesuisse) in der Geschäftsleitung tätig, hat als Band 85 der Basler Studien zur Rechtswissenschaft die 640-seitige Untersuchung „Parlament – Ort der politischen Entscheidung?“ veröffentlicht. Das Buch hat sich in den letzten vier Jahren im In- und Ausland als Standardwerk durchgesetzt. befasst sich am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland mit den „Legitimationsproblemen des modernen Parlamentarismus.“ Im Zusammenhang mit den Begriffen Subsidiarität und Nachhaltigkeit wird es bereits im Gablerschen „Wirtschaftslexikon“(Springer-Verlag) vermerkt. Das Werk findet sich in der Präsenzbibliothek des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialgeschichte in München. Auch im politologischen Seminar an der Universität Mainz dient es als Arbeitsunterlage. Bei Betrachtung der derzeitigen Verhältnisse in der grossen deutschen Regierungskoalition gewinnt das Buch an Aktualität.

In einschlägigen Bibliographien, nicht nur Wikipedia, wird Weber beim Stichwort „Parlamentarismus“ zusammen mit Autoren wie Hans Kelsen und Kurt Kluxen an privilegierter Stelle aufgeführt. Das Werk bietet dem politisch interessierten Leser einen reichen Fundus an Erkenntnissen, es mangelt auch nicht an aktuellen Bezügen bis 2010 einschliesslich der Schuldenkrise. Das Konzept schliesst an das „Parlamentsrecht“ des deutschen Staatsrechtslehrers Norbert Achterberg (1984) an. Dieser verband die in der Weimarer Republik aufgetretenen Steuerungsprobleme parlamentarischer Politik mit den heute sich stellenden Fragen der Legitimation parlamentarischer Arbeit.

In der derzeitigen Debatte steht im Vergleich zu Standardwerken früherer Epochen die Problemlösungskompetenz der parlamentarischen Arbeit im Vordergrund. Was Weber unter dem Stichwort „Arbeitsparlament“ erörtert, steht jenseits von idealistischen und traditionellen Vorstellungen von „Volksvertretung“. 200 Jahre nach den Brüdern Grimm („Die Poesie im Recht“) scheint auch das Märchen vom freien parlamentarischen Diskurs zu Ende erzählt. Ein solcher findet heute in den Parlamenten von Griechenland, Portugal, Spanien, Italien, Frankreich bei den massgeblichen Themen wohl kaum mehr statt, wenigstens nicht mit Einfluss auf massgebliche Entscheidungen. Trotzdem setzt sich der Staatstheoretiker Weber in der Tradition des Abbé Sieyès mit wünschbarer Gründlichkeit mit der Frage der parlamentarischen Repräsentation auseinander. Diese Grundlage einer noch möglichen legitimierten Demokratie spielt heute ein grössere Rolle in der politisch-rechtlichen Diskussion als die im Grunde kaum mehr praktizierbare „Volkssouveränität“ des Genfer Naturrechtlers Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1777). Davon haben sich aus Anlass seines 300. Geburtstages Staatsphilosophen (Georg Kohler, Francis Cheneval) stärker distanziert denn je. Die Berufung auf Volkssouveränität steht heute im Verdacht des Populismus. Im Hinblick auf das Funktionieren der europäischen Union stellt die Idee ein Hindernis dar.

Über die Repräsentation hinaus wird die Hauptarbeit des Parlaments, die zum kleinsten Teil im Plenum stattfindet, dargetan.  Zum Wandel der Staatsaufgaben und –funktionen gehört die Entwicklung rechtspolitischer Strategien, um die „Kontrollverantwortung“, etwa im Bereich der Haushaltskontrolle, wahrnehmen zu können. Parlamentsarbeit, wie sie in den Ausschüssen stattfindet, ist in diesem Sinn mehr als blosser Lobbyismus. Eine „deutsche“ Eigenschaft des Bundestages scheint es zu sein, dass dieser im europäischen Vergleich noch auf kompetente Weise in der Lage ist, die Aufgabe eines „Arbeitsparlaments“ zu erfüllen. Der neudeutsche Parlamentarismus zeigt den Weg des Staates zum Gewährleistungsstaat auf. Jedoch wurde die Frage, wie viel Schulden im Rahmen des europäischen Rettungsschirms vom Parlament noch durchgewinkt werden können, von der Zweiten Kammer des Bundesverfassungsgerichts entschieden. Von einer Souveränität des Parlaments kann insofern kaum mehr die Rede sein.

Im Vergleich zur Schweiz und im Hinblick auf die nach wie vor intensiv geführte Diskussion um das Milizsystem hat die Professionalisierung der parlamentarischen Arbeit in Deutschland eine mit unseren Verhältnissen kaum mehr vergleichbare Dimension erreicht. Dies hat zu einem bemerkenswerten Einspruch geführt: 2006 haben neun an Unternehmen beteiligte Bundestagsabgeordnete aus CDU, CSU, FDP und SPD  gegen das neulich im Zusammenhang mit Kanzlerkandidat Steinbrück wieder vieldiskutierte Gesetz über Nebeneinkünfte Verfassungsklage erhoben. Diese wurde von Karlsruhe mit dem hochpolitischen Stimmenverhältnis 4 : 4 abgewiesen. Obwohl der Deutsche Bundestag als Berufsparlament agiert, gab und gibt es Abgeordnete, die ihren Beruf ausüben (z.B. Friedrich Merz, Wirtschaftsanwalt, CDU-Abgeordneter bis 2009 und zeitweilig Chef der Bundestagsfraktion; Wolfgang Kubicki, Anwalt, FDP-Fraktionschef im Landtag Schleswig-Holsteins). Ihre Zahl ist keineswegs abnehmend, wohl deshalb, weil in der Wirtschaft zahlreiche Entscheidungen gefällt werden, die für die Politik von wachsender Bedeutung sind (z.B Infrastrukturpolitik, Public Private Partnership).

Dass der vom Verfassungsgericht tolerierte faktische Ausschluss aktiver Unternehmer aus dem Bundestag hochumstritten bleibt, ist ein Befund, den es auch in der Diskussion um das Schweizer Milizparlament zu beachten gilt. Ein vorbildlicher Milizvordenker war der Aargauer Julius Binder. Wie weit sind dynamische Fossilien wie Otto Ineichen (+) und Christoph Blocher Auslaufmodelle? Zu beachten bleibt eine fast nur noch in der Schweiz denkbare bedeutende parlamentarische Einzelmaske wie der Fabrikant Thomas Minder, im neuen Jahrtausend der bemerkenswerteste Störer des ständerätlichen Rituals.

Im historischen Teil ist bei Quirin Weber nebst dem deutschen vom britischen, französischen, amerikanischen und schweizerischen Parlamentarismus die Rede. Zu substanzieller Zitierung gelangt der Schweizer Verfassungsjurist Kurt Eichenberger (1922 – 2005). Ein in Theorie und Praxis fast unvergleichlicher Staatsdenker, dessen Format als Redaktor der aargauischen Kantonsverfassung sich den Mitgliedern des Verfassungsrates nachhaltig einprägte. Zur Mehrebenen-Demokratie, welche in Webers Buch zum Leuchten gebracht wird, gehört aus schweizerischer Sicht die Kantonalisierung von Entscheidungen. Darüber hat sich in einem Interview mit der Weltwoche (29. Nov. 2012) der ehemalige deutsche Bundesbanker und Euro-Kritiker Thilo Sarrazin mit Hochachtung ausgelassen. Wohl nur dank starker Kantone könne sich die Schweiz eine vergleichsweise schwache Regierung leisten. 

Zur Sprache kommen bei Weber Erfordernisse an ein europäisches Parlament. Der Verfasser zieht es jedoch vor, das Tabuthema „europäische Demokratie-Defizit“ fast nur im Kleingedruckten zu erörtern. Es handelt sich dabei insofern um ein Schlagwort, als die Europäische Union der Gegenwart, wie Weber betont, nicht als Staat bezeichnet werden darf. Allfällige Demokratiedefizite fallen demnach als Defizite der Einzelstaaten auf diese selbst zurück.

Dass der moderne Parlamentarismus auf einem System verschiedener Ebenen stattfindet, wovon die supranationale immer mehr massgeblich wird und bleibt, erscheint am Beispiel der Bundesrepublik als grundlegender Befund. Hier wird die Relativierung der Macht durch Interdependenz sozusagen lehrbuchmässig dargetan. Die demokratische Repräsentation sei auf der „geschichtlich präzedenzlosen“ Ebene der Europäischen Union „anders“ als auf staatlicher Ebene zu konzipieren (S. 12). Dabei wird auf den Vertrag von Lissabon (2007/2009) Bezug genommen, welcher seinerseits die Hürde des deutschen Bundesverfassungsgerichts nehmen musste. Man bekommt den Eindruck, dass diese Institution heute ein archimedischer Punkt ist, der bestimmt, ob und wie weit Brüssel-Europa noch funktioniert.

Das supranationale Bauprinzip der Europäischen Union wird als „entwicklungsoffene institutionelle Mehrebenenstruktur“ charakterisiert mit einem „sorgfältig austarierten Verhältnis von Rat, Kommission und Parlament“. Dabei wird die deutsche Verfassungsrichterin Grete Lübbe-Wolff  (SPD) sozusagen mit einem Augenzwinkern zitiert: „Die schönste Form der Bewältigung eines Problems besteht immer in der Erkenntnis, dass das Problem in Wahrheit nicht existiert.“ Andererseits lässt Weber den Politologen Maurizio Bach zu Wort kommen: „Eine der durchschlagenden Wurzeln des strukturellen Demokratiedefizits der EU ist (…) in dem ausgesprochen grossen Spielraum für bürokratische Politik zu sehen.“

Mit dem Beispiel der „präzedenzlosen“ Form und Struktur der Europäischen Union weist Quirin Weber zur Verteidigung von deren Rechtskonzept als Föderation Vergleiche mit bundesstaatlichen Strukturen zurück. Es wäre abwegig, die Schweiz von 1848 mit der Entwicklungslinie der Europäischen Union der Gegenwart zu verwechseln.

Das Problem des Demokratie-Defizits bleibt auf dem Tisch, aber anders, als meist dargestellt. Zum Beispiel erörterte Radio DRS vor einiger Zeit den beklagenswerten Zustand der Demokratie im EU-Mitglied Bulgarien. Bei der Griechenland-Krise war- aus der Sicht der EU-Leader-Nationen – 2015 die direkte Mitbestimmung des Hellenenvolkes ein Skandal gewesen, zumindest nicht ernst zu nehmen und in Österreich neigt man dazu, wie am 4. November 2012 in der Sendung „International“ von Radio DRS dargetan, Volksmitsprache mit potentiellem „Faschismus“ gleichzusetzen, zumal sich in unserem östlichen Nachbarland weder unter Habsburg noch gar in der Zeit nach dessen Untergang eine demokratische Moral herausbilden konnte. Das Beispiel zeigt, dass in Europa wohl niemand auf eidgenössischen  Nachhilfeunterricht in Demokratie wartet.

Auch aus diesem Grund konzentriert sich Quirin Weber auf den für Westeuropa eher repräsentativen deutschen Parlamentarismus. Wie kaum ein zweites freiheitlich-westliches System verfügt derselbe über historisch bedingte Erfahrungen im teilweisen Verzicht auf Souveränität. Diese Frage wird indes bei Weber nicht gerade ausgeklammert, steht im Vergleich zum ebenfalls nicht überbetonten Problem der Repräsentation im Hintergrund. Im Vordergrund steht, was das Parlament eigentlich zu tun habe und was es heute noch leisten könne: die Betrachtung der parlamentarischen Demokratie und ihres Potentials zur Selbstreform. „Im Mehrebenensystem des deutschen Bundesstaates und der EU haben die politischen Repräsentanten bürgerorientiert und partnerschaftlich zu handeln.“ (S. 13) Dazu bedarf es einer gründlichen Analyse des gegenwärtigen Parlamentarismus. Dieser ist gegenüber idealistischen Vorstellungen aus dem 19. Jahrhunderts deutlich abzugrenzen. Insofern scheint es auch nicht mehr angebracht, eine Parlamentskritik zu wiederholen, wie wir sie von Rousseau über den an Hobbes orientierten zeitweiligen Ideologen der Diktatur Carl Schmitt bis zum Kritiker des „Spätkapitalismus“ Jürgen Habermas bis zum Überdruss gehört haben.

Den Hauptkriegsschauplatz des „Demokratischen Parlamentarismus im offenen Staat“ betritt Quirin Weber mit den „neuen innenpolitischen Herausforderungen“ (S. 292f.), die sich mit dem „Wohlfahrtsstaat als historische Zwischenphase“ bzw. der Krise des Sozialstaates mit der immer drängenderen „Notwendigkeit institutioneller und struktureller Reformen“ ergeben. Je weiter „die Handlungsoptionen der Menschen in der Dienstleistungsgesellschaft“ steigen – es ist von „Multioptionsgesellschaft“ die Rede – desto expansiver wachsen Wirtschaft und Gesellschaft. Der „offene Staat“ muss im Sinn der Globalisierung europäisch und international kooperieren, es soll möglichst keinen Protektionismus und freien Welthandel geben. Zugleich muss er als Leistungs- und Dienstleistungsstaat funktionieren. Es stellt sich sodann die zentrale Frage, „ob und wie das demokratisch legitimierte Parlament seinen politischen Gestaltungsspielraum im Spannungsfeld nationaler Konsensfindung, Europäisierung und Internationalisierung erfüllen kann.“

Es ist ein Verdienst dieser Arbeit, dass nicht nur gesagt wird, wie das Parlament funktionieren kann. Grundsätzlich wird auch klar gemacht, was es zu leisten hat, nämlich die Setzung politischer Grundsatzentscheidungen wie auch bei  zunehmender Verknappung finanzieller Mittel die Setzung der Prioritäten bei den staatlichen Aufgaben und Ausgaben. Dabei herrscht aber doch ein klares Bewusstsein der Relativierung der Bedeutung nationaler Parlamente, deren Kompetenzen wohl auch in Zukunft durch Gerichte zusätzlich eingeschränkt werden. Nicht vergessen wird indes auch die „wachsende Diskrepanz zwischen Wählerwillen und parlamentarischer Entscheidung“, welche durch die Komplexität verschiedenster Legitimationsebenen noch gefördert wird. Der Wählerwille scheint je länger je mehr kaum mehr das Wichtigste zu sein. Auch wird die parlamentarische Kontrolle dessen, was man als Bürger gern kontrolliert haben möchte, immer schwieriger. Dazu vermerkt der Autor: „Wenn die parlamentarische Kontrolle schwierig wird, hat das Parlament dafür zu sorgen, dass die staatlichen Entscheidungsprozesse gut organisiert sind“ (S. 498ff. und S. 513).

Das hochkomplexe Buch bringt eine historisch, juristische und politologische Analyse eines Systems, in dem trotz oft gehörter Zweifel der Glaube an ein neues Europa als Baustelle der Demokratie bewusst nicht ad acta gelegt wird. Die Hoffnung stirbt zuletzt.  Die zunehmenden Ansprüche an den „Dienstleistungsstaat“, desgleichen die Ansprüche an das Parlament, es national und international fast allen recht machen zu müssen und ununterbrochen auf Interdependenz zu pochen, vermitteln dem einzelnen Bürger aber kaum mehr den Eindruck, dass er als ein Teil des Ganzen „der Souverän“ sei. „Die Verwirklichungsmöglichkeiten des Demokratieprinzips erweisen sich als schwierig“, vermerkt der Verfasser lakonisch. Trotzdem darf das unablässige kritische Bemühen um die Legitimierung der parlamentarischen Tätigkeit nicht aufgegeben werden. Es ist den „Schweiss der Edlen“ wert. Darum scheint es mir keine Kleinigkeit, dass man anhand des Miliz-Prinzips über die Möglichkeiten und Grenzen des Parlamentarismus von heute diskutiert. Das in fünfjähriger Arbeit erstellte Basiswerk über die Legitimationsprobleme des modernen Parlamentarismus erweist sich angesichts der europäischen Schuldenkrise, einschliesslich der institutionellen Debatten und auch der Flüchtlingskrise als brandaktuell. Die Frage nach den noch vorhandenen Gestaltungsspielräumen der Parlamente beschlägt die Zukunft der Demokratie auf unserem Kontinent.

Literatur. Quirin Weber: Parlament – Ort der Entscheidung? Legitimationsprobleme des modernen Parlamentarismus – dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland. Basler Studien zur Rechtswissenschaft Band 85, Helbing Lichtenhahn Verlag Basel 2012

 
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