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BLOG vom: 02.11.2009

Tränen der Rührung sind rein und waschen die Seele

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
In England ziemt es sich, hauptsächlich für den Mann, eine „stiff upper lip“ (steife Oberlippe) zu bewahren, wohinter Rührung, Schmerz, Zorn und andere Gefühlsregungen verborgen bleiben. Auch ich kann das als teilweise praktizierender Stoiker, trotz meiner sentimentalen Veranlagung.
 
Hingegen kommt es vor, wenn ich mir einen rührseligen Film anschaue, dass meine Augen feucht werden. Ich bin dann vom Geschehen gerührt und ergriffen. Ob aus Freude oder Mitleid, kommt es dennoch nicht zum eigentlichen Tränenfluss. Verstohlen wische ich mit dem Handrücken über meine feuchten Augen. Verlasse ich das Kino, so bin ich wieder voll und ganz gefasst. Ähnliche Regungen kann die Musik in mir auslösen, auch gewisse Werke der Literatur wirken auf mich ein, wiewohl seltener als beim besonders gefühlsvollen Adagio einer Geige im Verbund mit dem Cello. Als ich meine Liebesgeschichten schrieb („Emma“ oder „Der Korrespondent“) wurden meine Augen oft feucht bei tragischen Stellen meiner Hauptpersonen, auch später wieder, etwa beim Nachlesen.
 
Wir leben in einer hartherzigen Zeit, in der Rührung verpönt ist. Ich möchte den Zeithebel zu Gunsten von mehr Rührung verlagern, zumal wir, übersättigt von Elendsnachrichten, unser Herz verkrusten lassen.
 
Wie gewahren wir unsere Umwelt? Gewiss nicht mit verschlossenen Sinnen. Gibt es einen Zapfenzieher, um die verschlossenen Sinne zu öffnen? Eine knifflige Frage. Ist man in seinen eigenen Gedanken versponnen, verblasst die Welt rings um uns.
 
Ich will versuchen, das Thema „Rührung“ auf Umwegen einzukreisen. Erinnerungen rempeln uns oft von Aussen an. Es ist, als ob man im Zug sitzend, eine Landschaft, ein Stadtbild wahrnimmt. Ein „déjà vu“ flitzt auf: Ja, dort bin ich auch schon einmal gewesen, erinnere ich mich gerührt. Es liegt in der Natur des Menschen, dass wir uns vorzugsweise in guten Erinnerungen ergehen. Je älter man wird, desto mehr Erinnerungen steigen hoch: Wir sind im Einklang mit unserer Umwelt und kommunizieren mit ihr.
 
Aber daneben gibt es Einbrüche anderer Art, die genau das Gegenteil von Rührung entfachen und in Zorn umschlagen: Beleidigung, Betrug, Beschimpfung (um nur beim Buchstaben B zu bleiben). So komme ich zum Schluss, dass es mehr als einen Zapfenzieher gibt: einen zum Trunk, der uns wohl bekommt, einen für die Flasche mit Essig. Mit beiden begegnen wir den guten sowie den verwerflichen Angeboten, die uns aus der Umwelt zufliessen, bald gerührt, bald abwehrbereit.
 
Es gehört zur Lebenskunst, den uns bekömmlichen Trunk zu wählen. Ich rechne mich eher zu den temperamentvollen Menschen, was bedeutet, dass ich öfters ausreichend Grund finde, die Flasche mit Essig zu entkorken. Letztere entkorke ich gegen Missstände, die ich anprangere, wie da sind Machtmissbrauch, Grausamkeit, Raffgier und andere grobe Verstösse gegen Mitmenschen und der erweiterten Umwelt. Damit setze ich mir keineswegs eine Heiligenkrone auf und bereue meine eigenen Verstösse im Alltagsleben.
 
Zum Abschluss ist für mich der Begriff „Rührung“ doppelbödig und kann auch mit gerechtem Zorn ins Strombett der Gefühle einfliessen.
 
Hier noch einige Aphorismen, die ich im Verlauf meiner Gedankenbahn aufgegriffen habe:
Die Tränen der Rührung sind rein und waschen die Seele.
Rührung reicht nicht aus, wenn man sich selbst nicht rührt.
Lasst die Sinne schweifen zum Regenbogen hoch.
Gefühlsregungen sollen mit Vorbehalt an den Tag gelegt werden.
 
Hinweis auf weitere Feuilletons von Emil Baschnonga
23.10.2009: Herrenhandschuh sucht Damenhandschuh, gut gefüttert
22.09.2009: Trick mit dem Verschwinden: Aus dem Leben der Brille
10.09.2009: Im letzten Moment misslungen: meist selbst verschuldet
03.05.2009: Verkabelt und vernetzt: Das verflixte „digitale Zeitalter“
11.04.2009: Sérénade de sérénité – Die Serenade der Gelassenheit
05.04.2009: „Auf der Römerstrasse“ – oder: Der ewige Frühling …
31.03.2009: Spriessende Knospen: Ansatz- und Anknüpfungspunkte
10.03.2009: Londoner Familientragödie: Jake, der verstossene Sohn
05.03.2009: Das Falzbein, über das nichts zu sagen ist, und die Fee
14.02.2009: Das Blumenmädchen – die allerbeste Valentine-Blume
11.02.2009: Langsamkeitsvorbild: Erinnerung an meine Schildkröte
11.02.2009: Fiktion und Autobiographie: Das Ich in der Mehrzahl
06.02.2009: Zum Lob der Flausen: Wegweiser zu Lebensinhalten
17.01.2009: Kurzgeschichten wiederbeleben: Alex Käser und Jürg
01.01.2009: Fast eine Neujahrsgeschichte: Zu Fünft im Lift gefangen
21.11.2008: Kurzgeschichten-Wettbewerb (1. Teil): „Kain und Abel“
22.11.2008: Kurzgeschichten-Wettbewerb (2. Tei): „Kain und Abel“
06.12.2008: Kurzgeschichten-Wettbewerb (3. Teil): „Nachtschatten”
10.12.2008: Kurzgeschichten-Wettbewerb (4. Teil): „Gewissensfrage“
12.12.2008: Kurzgeschichten-Wettbewerb (5. Teil): „Eine Groteske“
26.12.2008: Kurzgeschichten-Wettbewerb: Preisträger wird bestimmt
07.11.2008: Altersbedingt – altersgemäss? Bedingt oder unbedingt
31.10.2008: Der Spazierstock – eine Geschichte für Gross und Klein
26.10.2008: Therapien mit Antiquitäten – diesmal ein Turkish Delight
23.10.2008: Ode an die Melancholie: Nahrung für die Wünschelrute
21.10.2008: Zu Freitod Tod und Sex: Schwarze Blätter aus England
21.09.2008: In der Fliegenfalle. Ein merkwürdiger Ausflug in den Jura
11.09.2008: Vom Leseroller zum eBook – und die Lesegewohnheit
21.08.2008: Olympiade der Käfer. Sie sind die wirkliche Nummer 1
17.08.2008: Anatole France: Le livre de mon ami – Lob der Kindheit
08.08.2008: Glück und Reichtum: Der Farthing und der Zaunkönig
27.07.2008: Traumtag in Hastings: Ein Stückchen Ewigkeit erhascht
19.07.2008: Wenn alte Esel Schmetterlingen Pflanzen vorenthalten
08.06.2008: Alle Wespen sind schon da – und die Mücken auch …
12.04.2008: Kleine orientalische Geschichten: Die Rettung der Krüge
28.03.2008: Wartezeit, Zeitverluste: Hochkonjunktur der Nervensägen
24.02.2008: Gedanken- und Schattenspiele – bis tief ins Herz hinein
17.02.2008: Trost von Bach, Heine: „Mein Kind, wir waren Kinder …“
13.02.2008: Valentinstag: Geheimnisvolles Paket, Edna gewidmet
04.02.2008: „Le rêve de ma vie …” – Der Traum meines Lebens …
29.01.2008: An der Überschrift liegt wirklich alles: „Im Rückspiegel“
23.01.2008: Aphorismen zur Sache, der man auf die Schliche kommt
13.01.2008: Stichwort „Satz“: Aphoristisch angehauchte Einzeiler
12.01.2008: Hochinnovativ: Vom Trugschein bis zum SalPeter-Betrug
01.01.2008: Auftakt 08: Reminiszenzen u. Sentenzen im Bummelzug
13.02.2008: Valentinstag: Geheimnisvolles Paket, Edna gewidmet
24.12.2008: So oder so? Weihnachten mit oder ohne Magenbrennen
20.12.2007: Mutterseelenallein: Zeit der Weihnachtsvorbereitungen
15.12.2007: Glanzkohle: Die Geschichte vom beseelten Wunderstein
05.12.2007: Spurlos verschwunden – wie vom Erdboden verschluckt
10.11.2007: Treppen und Blutwurst für eine psychiatrische Sitzung
26.10.2007: Londoner Stimmung: Der Winter wartet vor dem Fenster
21.10.2007: Ein E-Mail-freier Sonntag ... und dabei E-Meilen sparen!
29.08.2007: C.G. Jung: Die Intro- und Extraversion mit den Schatten
19.08.2007: Das Selbst als Lebensgrundlage, aphoristisch erfasst
15.08.2007: Netz der Verstrickungen: Der ungeliebte Unglücksrabe
02.08.2007: Die Tücken des Objekts – oder: Mensch, ärgere dich!
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14.07.2007: Reissaus genommen – Der wunde Punkt im Leben
21.06.2007: Allzu spät auf sie zugegangen: „Not here to be loved”
04.12.2006: Lady of Fashion: Skizzen einer Frau mit Liebe zur Mode
12.10.2006: Füllfeder und Tinte Ade gesagt: Schreibzeug, Schriftzüge
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09.09.2006: Wie die missbrauchte Zunge zum ,Lällekönig' wurde
31.08.2006: Wirrwarr aus ineinander verschlungenen Büroklammern
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