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BLOG vom: 06.06.2011

Die Gezeichneten und Vor-Gezeichneten von Max Frisch

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Vor 3 Tagen wollte ich endlich einmal feststellen, was ich hinter den vorderen Bücherreihen versteckt hatte, wo ich wegen Platzmangels viel Lesefutter aufgetürmt hatte. Ich begann mit dem untersten Schaft rechts und legte ein Buch ums andere, eher flüchtig angeblättert, kreuz und quer über den Teppich. Ich will hier die Leser und Leserinnen nicht mit meinem Inventar belästigen, denn es erweckte alte – und folglich vergessene – Erinnerungen, die seither ihre Aktualität für mich eingebüsst haben.
 
Ich liess meinen Vorsatz, Ordnung zu schaffen, fahren, als ich das „Tagebuch 1966 ‒ 1971“ von Max Frisch in der Hand hielt und zu lesen begann. Es war die Erstausgabe von Suhrkamp, 1972 veröffentlicht, eines der wenigen Bücher, die ich nicht antiquarisch gekauft hatte. Mit Abstand zu seiner Person, hielt er viele Reiseeindrücke aus Frankreich, Deutschland, Osteuropa, Russland usf. fest, immer hellwach und kritisch geschildert. Seine Begegnungen mit Zeitgenossen, worunter Bertolt Brecht, fesselten mich so sehr wie sein Bericht, besser gesagt „Protokoll“ über die Krawalle der Jugendlichen beim leer stehenden „Globus“ bei der Bahnhofbrücke in Zürich gegen Ende 1980. Weite Kreise der Bevölkerung stimmten mit der Behörde überein, dass die „Randalierer, Rädelsführer, Aufwiegler und Anarchisten“ mit der ganzen Strenge des Gesetzes zu verfolgen seien. Sie wurden von der Polizei brutal niedergeknüppelt und anschliessend im Globus-Keller blutig geschlagen. „Entsetzlich“, war meine damalige Reaktion. Ich hatte zu jener Zeit geschäftlich in Zürich zu tun – zum Glück weit ab vom Globus. Nein, ich will diese schmählichen Geschehnisse hier nicht aufrollen.
*
Als ich dieses Tagebuch erstmals als junger Mann las, dachte ich, dass sich Max Frisch übertrieben mit dem herannahenden und vorrückenden Alter auseinander setzte, beginnend mit den Vor-Gezeichneten – mit den knapp 40- bis 50-Jährigen. Unter den „Notizen zu einem Handbuch für Anwärter“ vermerkt Frisch – hier auszugsweise (gekürzt):
 
„Intellektuelle reagieren auf ihr Altern primitiver als ihre sonstige Verhaltensweise: Auf öffentliche Treppen nehmen sie leichthin zwei Tritte wie einen einzigen …“
 
Sei dahin gestellt, ob ich ein Intellektueller bin oder nicht, habe ich mich verschiedentlich dabei ertappt, wie ich – gar nicht altersgemäss – drei Tritte auf einmal nahm.
 
„Es freut ihn nicht, Leute seines Jahrgangs zu treffen, etwa ehemalige Mitschüler mit Bauch und Glatze …“
 
Ich habe weder Bauch noch Glatze, und mein Schopf ist fast ohne Grau. Trüge ich einen Bart, wäre er schlohweiss. Es freut mich ganz und gar nicht, wenn Leute in öffentlichen Verkehrsmitteln mir ihren Sitzplatz anbieten …
 
„Lange bevor von Senilität die Rede sein kann, besorgt sich der Künstler bei der Arbeit bereits um den Nachruhm – ein Vor-Gezeichneter.“
 
Dazu kein Kommentar meinerseits.
 
„Ein 40-Jähriger, der auf exquisite Küche erpicht ist und unentwegt über Speisen redet: ein Feinschmecker – ein Vor-Gezeichneter.“
 
Ich geniesse seit jeher gute Kost. Und während ich sie esse, spreche ich nicht über Speisen. Vielleicht erst nachher …
*
Hier verdriesst mich das Altersthema. Ich lasse es bei den Vor-Gezeichneten bewenden. Schliesslich brauche ich keine Bäume mehr zu erklimmen, selbst wenn ich es noch vermöchte. Gestern wollte ich eine Marmorschale vom Sockel zu heben, um sie zu reinigen. Ich hielt inne und wollte keinen Bruch riskieren. Damit sind mein Bauch und die ihn umgebenden zerrungsanfälligen Bänder und nicht der Marmor gemeint.
 
Ich werde Frischs Tagebuch weiterlesen. Ich habe mir Dispens von Lily erbeten, denn sie mag Bücher nicht, wenn sie über den Teppich verstreut sind. Wer weiss, was ich sonst noch in meinen Bücherbeigen hervorkrame!
 
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