Textatelier
BLOG vom: 19.03.2007

Aspekte der Geradlinigkeit: Linthebene und Linthkanal heute

Autor: Walter Hess, Biberstein CH
 
Ein einfaches physikalisches Gesetz betrifft die kommunizierenden Röhren: Solche Röhren oder Gefässe sind oben offen, aber unten miteinander verbunden. Füllt man eine homogene Flüssigkeit wie Wasser ein, steht die Flüssigkeit in allen Gefässen gleich hoch, weil die Schwerkraft und der Luftdruck konstant sind.
 
Dasselbe gilt auch für sehr grosse Gefässe wie Seen. Verbindet man verschiedene Seen mit Kanälen, ist der Wasserstand überall gleich hoch. Da aber Seen durch Bäche und Flüsse laufend mit zusätzlichem Wasser gespeist werden, muss man irgendwo eine Vertriefung in einen Gefässrand (ein Seeufer) machen, damit das Wasser abfliessen kann. Selbstverständlich besorgt das auch die Natur selber: Wenn die Seewannen gefüllt sind, kommt es an der tiefsten Stelle der Gefässwand zum Überlaufen. Beim Ausfluss eines Sees werden somit ganze Systeme regulierbar.
 
Juragewässerkorrektion
Dieses Prinzip der kommunizierenden Seebecken wurde zum Beispiel bei den beiden Juragewässerkorrektionen angewandt (siehe Blog vom 16.3.2007: Öko-Strom: Die zweigeteilte Aare von Schinznach bis Brugg): Die 3 Juraseen (Murtensee, Neuenburgersee und Bielersee) wurden durch eine Verbreiterung und Vertiefung der Kanäle miteinander verbunden, und die wilde Aare, die den Bielersee ursprünglich umflossen hatte, wurde in diesen eingeleitet, eine Zwangsmassnahme. Seither bilden die 3 Seen ein grosses Ausgleichssystem für das in unterschiedlichen Mengen anfallende Wasser. Die Pegelhöhe wird durch das Wehr bei Port in Biel reguliert; es hat auch die Funktion einer Schleuse. Damit wurde die Überschwemmungsgefahr im Unterlauf der Aare erheblich abgepuffert.
 
Geschiebe aus dem Glarnerland
Die Natur machte Schwierigkeiten, verkörperte das Böse und musste besiegt werden. Und so war denn der ähnliche Trick schon lange vor den Eingriffen in den Juragewässer-Haushalt auch in der Linthebene zwischen dem Walensee und dem oberen Zürichsee angewendet worden. Es galt, die aus dem Glarnerland heranfliessende, unberechenbare Linth zu bändigen, die Geschiebe in jeder Menge mitbrachte und etwas weiter unten bei Ziegelbrücke den Abfluss des Walensees verstopfte und die Schifffahrt behinderte.
 
Die alte Linth liess den Walensee rechts liegen. Sie bahnte sich von Mollis aus ihren Weg quer durch das Tal nach Ziegelbrücke. Hier mündete die Maag (Weeser Linth), der naturgegebene Abfluss des Walensees, in die Linth, die des geringen Gefälles wegen in Mäandern und bei Ausbildung verschiedener Flussarme dem Zürichsee entgegen floss. Der Höhenunterschied zwischen Walensee und Zürichsee beträgt nur 13 m, also etwa 8 cm auf 100 m, was mit gleichförmigen Dämmen ausgeglichen werden musste. Die Entwässerungskanäle folgen den Dämmen tiefer unten. Aus dem Riedboden muss das Wasser in diese Kanäle hinaufgepumpt werden, die Korrektionseinflüsse korrigierend.
 
Die Abholzung der Hänge im Glarnerland, wo Holzhändler im 17. Jahrhundert Hochwälder zusammengekauft hatten und die Stämme meist nach Holland verfrachteten, war eine der Voraussetzungen für eine verstärkte Erosion, eine wohl etwas verkürzte Schulbuchweisheit. Denn schon vorher war die Linth in Sachen Materialabtransport nicht zimperlich gewesen, ansonsten der Tuggenersee nicht aufgefüllt worden wäre. Dieser verschwundene See existierte bis ins Spätmittelalter in der Linthebene zwischen Tuggen und Kaltbrunn, und er verlandete im 16. Jahrhundert. Der Weg der Linth in den Zürichsee wurde dadurch wesentlich länger. Anschliessend verbarrikadierte das Geschiebe den Walenseeabfluss, und die Linthebene wurde bei steigendem Wasserstand zunehmend nasser, das heisst sie begann seit dem 18. Jahrhundert zunehmend zu versumpfen. Man sprach sogar von der verheerend wütenden Malaria (Sumpffieber), was ich nur unter Vorbehalten zur Kenntnis nehme, auch wenn die Mücken schon immer Freude an Wasserstellen gehabt haben dürften. Vielleicht gehört das zum Teil zu den vielen Sagen, mit denen der Walenseeraum und die Linthebene so reich eingedeckt sind.
 
Man hätte natürlich auch bei der Geschiebe führenden Linth eingreifen können; doch wurde eine umfassendere Lösung angestrebt, die auch andere Ansprüche befriedigte – bis zu jenen der Stadt Zürich als Unterliegerin, die den Zürichsee genau reguliert. Die Linth wurde in den Walensee umgeleitet und hatte ihr mitgeführtes Gesteinsmaterial gefälligst dort zu deponieren. Über einen 17 km langen Kanal wurden der Walensee und der Zürichsee dann so verbunden, dass das Wasser in einem speziell erstellten Gerinne, dem weitgehend schnurgeraden Linthkanal eben, in den Zürichsee abgeleitet werden konnte. Damit war auch hier ein regulierbares System geschaffen, von dem nicht nur die Uferstädtchen Weesen und Walenstadt mit ihren nassen Füssen am Walensee profitierten, auch der ganze Zürichseebereich inklusive die Stadt Zürich zogen ihren Nutzen daraus.
 
Rettung aus dem Sumpf
Es sind nun genau 200 Jahre her, seitdem (im März 1807) aus der Linthebene ein dramatischer „Aufruf an die Schweizerische Nation zur Rettung der durch Versumpfungen ins Elend gestürzten Bewohner des Wallen-Sees unteren Linth-Thales“ erlassen wurde. Wie weit die Bevölkerung daran beteiligt war, weiss ich nicht. Sie hatte im Untertanengebiet sowieso nichts zu sagen.
 
Der damals bereits vorliegende, von der eidgenössischen Tagsatzung im Jahr 1804 beschlossene hydrotechnische Plan sollte dringend umgesetzt werden, hiess es im Aufruf sinngemäss. Er bewirkte, dass schon im Oktober 1807 über 2000 Aktien gezeichnet waren, so dass das restliche Geld für die Verwirklichung des Linthwerks, zu dem auch öffentliche Hände ihren Beitrag leisteten, in ausreichender Menge zur Verfügung stand. Das landschaftsverändernde Bauwerk kostete damals 985 000 Franken, was heute etwa 300 bis 400 Millionen CHF entsprechen würde.
 
Unter der Leitung von Johannes Conrad Escher, einem volksverbundenen Staatsmann, Wissenschaftler und Kaufmann in einer Person, entstand das gigantische Werk zwischen 1807 und 1822. Escher war die treibende Kraft, wirkte unentgeltlich mit und wird noch heute als „Wohlthäter dieser Gegend“, wie es auf einer Gedenktafel in Ziegelbrücke heiss, wie ein Heiliger verehrt. Die Linth-Escher-Gesellschaft wirkt ebenfalls in dieser Richtung und sammelt und erhält das Wissen um Eschers Linthwerk für die Nachwelt. Im Buch „Das „Linthwerk“ (ISBN 3-85546-068-X) sind viele alte und neuere Dokumente vereint, eine gute historische Grundlage für Linth-Forscher und -Freunde.
 
Eindrücke
Als Schüler wurden wir in der Mitte des 20. Jahrhunderts im nahen Toggenburg ebenfalls darauf trainiert, Escher und sein Werk zu verehren. Ich hatte den Kanal einige Male vom Bachtelturm oberhalb von Wald ZH aus der Ferne gesehen. Er erschien mir wie ein gewaltiger Strich in der sonst abwechslungsreich strukturierten, von Bergen umrandeten Landschaft zu liegen. Und wenn ich Jahrzehnte später jeweils auf der Autobahn A3 von Zürich in Richtung Graubünden fuhr, fielen mir vor allem die vielen Hochspannungsleitungen auf. Die riesigen vierbeinigen Masten schienen in mehreren geordneten Kolonnen im Gänsemarsch ins Unterland zu schreiten, um den Strom dorthin zu tragen. Eisenbahn, Autobahn und eben die Elektrizitätsübertragungsanlagen: Die Bewohner der Linthebene, die als liebenswürdige, hilfsbereite und wohlerzogene Menschen gelten, haben ihren Teil an die nationale Infrastruktur fürwahr geleistet.
 
Im Geiste der Aufklärung
Ich habe mir am 13. März 2007 die Mühe gemacht beziehungsweise mir das Vergnügen gegönnt, einen ganzen Tag lang in der Linthebene herumzustreunen, um aus der Nähe zu betrachten, wie sich Eschers Hinterlassenschaften heute ausnehmen. Dabei liegt es mir fern, ihm alles in die Schuhe schieben zu wollen, was sich dort ereignet hat. Er verkörperte den Geist seiner Zeit der Aufklärung, wollte das Beste und vollbrachte ein Werk, das angesichts der damals zur Verfügung stehenden bescheidenen Mittel (ohne Maschinen) Ehrfurcht abverlangt. Das Linthwerk hatte auch die Funktion eines Arbeitsbeschaffungsprogramms und galt als „Sinnbild der Zähmung der Natur durch den Menschen“, wie auf einer Gedenktafel in der Grynau zu lesen ist.
 
Reissbrettartig
Ich nehme den Gesamteindruck vorneweg: Abgesehen von einigen Naturschutzgebieten wie beim Linthkanal-Beginn in Weesen (Kanton St. Gallen)/Mollis (Kanton Glarus) und im Kaltbrunner Riet, einem bedeutenden Flachmoor, sowie in der Allmeind in Schmerikon SG, wo der Linthkanal und der seit den 1930er-Jahren ebenfalls kanalisierte Aabach aus dem Goldinger Tal in den oberen Zürichsee münden, macht die Landschaft ihrer Geradlinigkeit wegen einen trostlos-langweiligen Eindruck. Denn wohl niemand wird ein Reissbrett seiner Form wegen als besonders attraktiv empfinden. Die Geradlinigkeit als menschliche Eigenschaft ist zwar ausserordentlich erwünscht – sie bezeichnet das aufrichtige Denken. Doch der Natur ist die Geradlinigkeit im geometrischen Sinne eher unbekannt; und wo es sie gibt (etwa bei Kristallen) ist sie einfach ein Aspekt der unendlichen Formenfülle.
 
Zwar hat der Linthkanal (auf der Höhe von Niederurnen, im Eingangsbereich des Glarnerlands also) bereits kurz nach dem Anfang eine erste leichte Krümmung, doch meistens hat man es mit der Geraden zu tun. Sie kommt auch dem Umstand entgegen, dass sie die kürzeste Verbindung zwischen 2 Punkten ist, was in jedem Geometriekurs zu erfahren ist. Die Gerade diente auch den Eisen- und Autobahnbauern, und natürlich machen auch Elektrizitätsübertragungsanlagen keine unnötigen Bögen. Zusätzlich zum Linthkanal gibt es auch den meist geraden Linth-Escherkanal (abgesehen vom Bogen im Kundertriet), in dem das Wasser und dessen Mitbringsel aus dem Glarnerland dem Walensee zugeführt wird. Er erreicht den Walensee an seinem Südufer zwischen Weesen und Filzbach (Gebiet Gäsitschachen). Verschiedene ebenfalls geradlinige Entwässerungskanäle, welche das Binnenwasser der Linthebene abtransportieren, durchziehen die ebene Landschaft, in der das Wasser seinen Drang an die tiefste Stelle zum Teil aufgegeben zu haben scheint. Das alles zusammen verstärkt den synthetischen Eindruck, eine Folge der Dominanz der banalen Zweckmässigkeit. Da ist alles reguliert und nicht dem Spiel der natürlichen Kräfte überlassen – wohl immer der Not gehorchend.
 
Durchaus verständlich ist auch, dass die hier lebenden Menschen Arbeit finden mussten und Industrie- und Gewerbebetriebe in der Ebene willkommen waren, ebenso wie freizeitsportliche und touristische Anlagen. Sie alle gehören zusammen mit Landwirtschaftsbetrieben zum heutigen Bild der Linthebene, das von einer grossartigen Bergwelt gesäumt ist. An den Nordhängen färbte an meinen Exkursionstag der Schnee die höheren Lagen weiss und freundlich ein, und unten war es weit über 10 °C warm, recht frühlingshaft, wie moderne Winter schliesslich nun einmal sind.
 
Korrigierte Korrektionen
Als Aargauer kenne ich umgestaltete Flusslandschaften bestens; ich lebe darin. Die Ursache ist bei uns im „Energiekanton Aargau“ meistens der Hunger nach Elektrizität. Von meinem Schreibbüro im Wintergarten aus liegt eine solche Kunstlandschaft direkt vor mir – die kanalisierte Aare mit dem Rohrer Schachen im Hintergrund. Doch sind im Rahmen des Auenschutzparks Aargau die Anstrengungen im Hinblick auf eine Renaturierung zweifellos intensiver als in der Linthebene, wo diesbezüglich noch einiger Aufholbedarf besteht. Doch auch im Aareumfeld ist noch einiges zu renaturieren.
 
Der Linthkanal ist mit seinen ebenmässigen, zum Zwecke des Erosionsschutzes angelegten, befestigten Schrägufern, die durch keine ins Auge fallenden Naturäusserungen belebt werden, in dieser Form schon eine Zumutung, eine Faust aufs ästhetisch empfindsame Auge. Der Begriff „Korrektion“ (Korrektur) ist in solchen Zusammenhängen besonders mutig; er entstand aus ausschliesslich anthropozentrischer Sicht. Eine Korrektur müsste die Korrektion betreffen.
 
Fritz Mühlberg (1840–1915), Geologielehrer an der Kantonsschule Aarau, der die so genannten „Aarekorrektionen“ im Raume Aarau in der 2. Hälfte beobachtet hatte, zog in seinem Werk „Die heutigen und früheren Verhältnisse der Aare bei Aarau“ 1884 folgende Bilanz aus verschiedenen Sichtweisen, der eine grundsätzliche Bedeutung (auch in Bezug auf das Linthwerk) nicht abzusprechen ist: „Ein Ästhetiker würde zwar vielleicht an einem inselreichen und gewundenen Lauf der Aare mehr Gefallen finden, der Botaniker, welcher auf den zeitweise überschwemmten Grien- und Sandbänken in den Altläufen eine Menge interessanter und seltener Pflanzenformen fand, wird deren Beseitigung bedauern, und auch der Geologe wird zukünftig an dieser Strecke die natürlichen Flussverhältnisse und ihre ungehinderten Wirkungen nicht mehr studieren können. Wer aber den jetzigen Zustand der Aare mit dem früheren vergleicht, wird beim Anblick der gleichförmigen Strömung und der wohlbewehrten Ufer, welche auf das geschützte Terrain verwendeten Fleisse des Menschen die wohlverdiente Ernte sichern, von behaglicher Freude erfasst werden.“
 
Hochwasser- und Naturschutzkonzept für die Linth
Inzwischen laufen verschiedene Korrekturen mit dem Ziel „Zurück zu mehr Natur“ an. So gibt es das von den betroffenen Kantonen trotz unterschiedlicher Interessenlage sehr gut aufgenommene Hochwasserschutzkonzept Linth 2000. Deshalb ist die Zuversicht gerechtfertigt, dass es auch dort voran zu mehr Natur gehen wird. Denn dieses wegweisende Konzept will nicht allein einen besseren Schutz vor Überschwemmungen beim Escher- und beim Linthkanal mit deren Anzeichen von Altersschwäche herbeiführen, sondern vor allem am Escherkanal den Fluss markant aufweiten und überall die Ansprüche von Tier- und Pflanzenarten nach Möglichkeit verbessern. Die Landschaft würde auch für Menschen attraktiver.
 
Dabei kann es nicht darum gehen, die technischen Eingriffe zu kaschieren, die das auch nicht nötig haben. Man soll sie sichtbar bleiben lassen oder sogar wieder sichtbar werden lassen und dazu stehen, ähnlich wie alte Fabrikbauten auch kulturgeschichtlich wertvolle Zeugnisse vergangener Revolutionen und dem damals herrschenden Zeitgeist sind. Ein solches Beispiel hat gerade die Linthebene zu bieten: die 1833 entstandene Spinnerei-Zwirnerei-Weberei Fritz & Caspar Jenny AG in Ziegelbrücke, ein kompaktes Industrieareal, das es sogar zur Ehre der Schutzwürdigkeit brachte.
 
Insgesamt wäre heute, 200 Jahre nach dem Aufruf der bedrängten Linthebene-Bewohner, ein neuer kraftvoller, dahingehender Aufruf fällig, dem Gebiet zwischen Walen- und oberem Zürichsee inklusive dem ins Glarnerland führenden Taltrichter wieder viel mehr Naturnähe zurückzugeben. Heute ist die diesbezügliche ökologische Not offensichtlich gross, obschon sich eine erstaunliche, relativ reichhaltige Flora und Fauna angesiedelt hat. Eine gewisse Eigendynamik des Wasserhaushalts mit ihren Überraschungen und auentypische Gewässerlebensräume sollten wo immer möglich wieder zugelassen werden, zumal die Transportschifffahrt, die ursprünglich eines der Argumente für den Linthkanal war, keine Rolle mehr spielt. Auf dem Linthkanal werden keine Güter mehr transportiert.
 
Von Weesen nach Schmerikon
Bei meiner Exkursion beschränkte ich mich vorwiegend auf den Linthkanal, der wenigstens auf einer Strecke von 1,5 km ökologisch aufgeweitet werden soll. Ich startete in Weesen, also am Beginn des Linthkanals. Weesen hat einen kleinen ovalen Hafen, der 2006 mit einem Kostenaufwand von 358 000 CHF ausgebaggert worden ist, wie ich im örtlichen Mitteilungsblatt „Weesen aktuell“ vom Dezember 2006 gelesen habe. Zum Wesen von Weesen gehört der relativ kleine Springbrunnen im See nach Genfer Muster; denn vom Hochwasser möchte man doch nicht ganz lassen. Der Ort war einst ein bedeutungsvoller Zoll- und Umschlagsplatz am Westende des bei der Linth-„Korrektion“ um 5,5 m abgesenkten Walensees, dessen Pegelstand vorher ständig gestiegen und dessen gesammeltes Wasser zu einer Bedrohung geworden war. Das überflutete Land wurde mit dem Absenken des Pegels zurückgewonnen – und wohl noch einiges dazu.
 
Es wäre ein Sakrileg, bei einer Beschreibung von Weesen nicht auf die rundkaminartige Escher-Gedenksäule im Hafenareal aufmerksam zu machen (ein ähnliches Monument gibt es auch in Walenstadt). Dort sind, mit goldigen Ringen markiert, frühere Pegelstände abzulesen – und der Betrachter kommt sich wie ein Taucher vor.
 
Weesen (419 m ü. M., Seespiegel) ist in touristischen Belangen zusammen mit dem höher oben gelegenen Amden (rund 900 m) sehr aktiv und fast ein kleines Weggis. Aus dem Werbeprospekt für Amden: „Hier wird es dem coolsten Schneefan ganz warm ums Herz“ – und wenn die 8 km Loipen für den klassischen Langlauf und die 25 km Winterwanderwege zur Herzerwärmung nicht ausreichen sollten, dann hilft ja schliesslich noch der CO2-Ausstoss mit seinem Heizeffekt weiter.
 
Wie Weggis an Fusse der Rigi am Vierwaldstättersee, hat auch Weesen am Fusse der Churfirsten am Walensee („Riviera der Ostschweiz“) ein ausserordentlich mildes Klima, weil die frostigen Nordwinde hier keinen Zutritt haben. Viele Hotels bemühen sich, den Gästen den Aufenthalt zu verschönern. Das berühmteste davon ist das Hotel Schwert, wo der Musiker Franz Liszt mit Marie Comtesse d’Agoult 1835 abgestiegen sind und wo er sein Stück „Au lac de Wallenstadt“ komponierte, eine Naturimpression von magischem Zauber. Der Publizist Richard Ammann hat diese Geschichte in seinem 1994 erschienenen Büchlein „,Hirschis’ langer Weg zum Licht. Erzählungen aus der Walenseeregion“ (Churfirsten-Verlag) köstlich beschrieben, ebenso den Besuch von einem Dächlikappenmann namens Wladimir Iljitsch Uljanov (1895), der dann unter dem Namen Lenin als Führer der russischen Revolution bekannt wurde. Allerdings wurde Lenin weit weniger als Liszt als Aushängeschild für die Bedeutung des Kurorts Weesen eingesetzt. Man ist dort schon etwas wählerisch.
 
Auf der dem Dorf Weesen gegenüberliegenden Seezopfseite, wo die Bahngeleise, der Bahnhof und die Autobahn sind, gibt es ein schönes Naturgebiet (Hüttenböschen/Seeflechsen, Gemeinde Mollis) mit einem Sandstrand. Daneben ist ein naturnah gestaltetes, kaum begehbares Ufer mit Steinbrocken und Stämmen von angeschwemmten Bäumen. Buschwindröschen und Leberblümchen waren bereits erwacht. Daran schliessen sich Grünflächen mit grossen, lebendigen Einzelbäumen an; andere Bäume mit Misteln in den Kronen sind in Kanalnähe zu einer Riesenhecke verschlungen.
 
Ziegelbrücke
Geradlinig strebt der Linthkanal von hier aus bis zur Krümmung vor Ziegelbrücke (Gemeinde Niederurnen GL) davon. Dort dominiert in dem Gewirr von Verkehrsanlagen vor allem der Bahnhof Ziegelbrücke auf dem Gemeindegebiet von Schänis SG. Hier zweigen die Züge südwärts in den Kanton Glarus ab. In Ziegelbrücke endet die Zürcher S-Bahn, woraus man schliessen mag, dass die städtische Agglomeration zumindest bahngeografisch bis hierher vorgedrungen ist. Die Linthebene gehört heute zweifellos zum Auslauf der Stadtzürcher, auch wenn der Auslauf (der Linth) diesmal ausnahmsweise etwas weiter oben ist. Auf den Dämmen des Linthkanals gibt es beidseitig Wanderwege bis ins Mündungsgebiet – man kann sich nicht verirren – immer geradeaus.
 
Der Linthkanal strebt in Nordwestrichtung dem Weiler Giessen bei Benken SG zu, wo ich gern das Bäckerei-Museum besucht hätte, wäre es nicht abgeriegelt gewesen. Zum Trost gönnte ich mir im angebauten Restaurant Bretzelstube einen Kaffee und erhielt dazu ein kleines Sablé (Sandplätzchen, ein Gebäck) aus industrieller Produktion, das seinem Name die gebührende Ehre machte. Hier ist der zentrale Treffpunkt von Naturliebhabern, Fischern und Feinschmeckern.
 
Grynau
Über Benken und rund ums Kaltbrunner Riet erreichte ich Uznach und machte einen Abstecher nach Grynau (Grinau), um wieder nahe beim Linthkanal zu sein, der hier seit 1815 besteht, und dessen Mündungsgebiet an dieser Stelle beginnt. Früher floss das Wasser durch einen Durchlass in der Schlossmitte; heute führt die Strasse Uznach–Tuggen zwischen Turm und Schloss (Wohn- und Gasthaus) hindurch. An der Südfassade des Turms, der im frühen 13. Jahrhundert im Auftrag der Rapperswiler Grafen erbaut wurde und zur Schlossanlage gehörte, blättern gerade die Reste eines Wandbilds aus dem Jahr 1908 ab, das die sagenhaften Gründungsväter des Landes Schwyz dargestellt hat; die Brüder Suit und Scheyo kämpften ums Recht, dem Lande Schwyz den Namen zu geben, wurden bei diesem Tun aber offensichtlich vom Zahn der Zeit übermannt. Nur noch Beine, Füsse und Schwertscheiden sind auszumachen.
 
Im Turm, an den sich eine grosse Stallung mit Welleternitdach anlehnt, soll noch heute ein Schlossgeist umhergehen, ein schwarzer Mann mit struppigem Bart, der immer noch auf die Erlösung wartet ... Ich wünsche ihm die nötige Geduld. Von hier aus konnten die Schwyzer die Verkehrsströme kontrollieren – zwischen Ostschweiz und Innerschweiz sowie zwischen Zürich und Chur, bis dann 1848 die Binnenzölle aufgehoben worden sind. Schon 1553 soll hier ein Wirtshaus bestanden haben, und der heutige Landgasthof ist mit einem prächtigen barocken Wirtshausschild geschmückt, das 1967 vom Kunstschlosser Louis Thum geschaffen worden ist.
 
Die Allmeind in Schmerikon
Gegen Abend erreichte ich zollfrei die Schmerkner Allmeind-Bätzimatt, ein Flachmoor von nationaler Bedeutung, rund 30 Hektaren umfassend. Von den Sportanlagen (Fitness Nordic-Parc) aus wanderte ich dem oben erwähnten Aabach entlang zum Ostufer des oberen Zürichsees, vorbei an einer sorgfältig gemähten Streuwiese, in der keine Fahrspuren zu sehen waren, eine offensichtlich professionelle Unterhaltsleistung.
 
Auf einer Orientierungstafel werden Eigenschaften und Funktion einer Streuwiese erklärt: „Streuwiesen sind Wiesen mit ganzjährig hohem Grundwasserbestand. Die meist ungedüngten Wiesen bieten vielen Pflanzen und Tieren Lebensraum. Wenn sie nicht regelmässig geschnitten werden, verbuschen sie rasch und gehen schliesslich in Auenwald über. Viele Pflanzen der Streuwiesen lagern ihre Nährstoffe im Herbst in unterirdischen Organen ab. Die nährstoffarme Streu wird ab Anfang September geschnitten. Die so genannte Schwarzstreu wird meist zur Einstreu im Stall genutzt.“ Zu den erwähnten Pflanzen und Tieren gehören die Weisse Sumpfwurz, die Hosts Segge, das Pfeifengras, der Lungenenzian, der Sumpfrohrsänger, der Grosse Brachvogel, die Langflügelige Schwertschrecke, das Blauauge und der Kleine Moorbläuling. In seltenen Fällen gibt es dort angeblich noch Feldhasen und Kiebitze zu sehen.
 
An die befestigte Böschung des schnurgeraden Aabachs wurden kürzlich in allzu regelmässigen Abständen einige Erdwälle eingebracht, damit das Wasser etwas belebt wird; offenbar bemüht man sich um eine Böschungsbepflanzung. Bis ins 18. Jahrhundert deponierte dieser Bach sein Geschiebe beim Austritt aus dem Tobel bei der Spinnerei Uznaberg und wurde dann Schritt für Schritt kanalisiert, mit Leitdämmen versehen, und er vergrösserte die Landfläche am Seeufer um etwa 16 ha. Der vorbildliche gestalterische Einfallsreichtum der Natur ist im Mündungsgebiet dieses Bachs, wo auch schon Kies abgebaut wurde, in der Nähe der aus Naturschutzgründen unzugänglichen nahen, von dem rechts- und linksseitigen Hintergraben flankierten Linthkanaleinmündung zu erkennen, auch wenn aus dem Schutzbedürfnis heraus die Natur etwas eingezäunt werden musste.
 
Das Delta mit seinen Schilfbeständen, Kiesinseln, Steinen, Baumhölzern ist ein prächtiger dynamischer Lebensraum, auch für Vögel wie Flussseeschwalbe, Flussregenpfeifer und Lachmöwe – da lacht  selbst das Herz des Naturfreunds. Hier haben Fische ihre Kinderstube, und Brutvögel können Nistplätze einrichten.
 
Am östlichen Zürichsee-Ende ist die Welt wieder in schöner Ordnung, und auch der Blick aufs wohlhabende, kompakte Seedorf Schmerikon mit seinen vielen geschichtsträchtigen Bauten ist attraktiv.
 
Etwas talaufwärts führt zwischen Allmeind und dem Linthkanal eine alte, geradezu wohnliche, 13 m lange, mit Schindeln eingekleidete Holzbrücke mit Türmchen über den Aabach. Sie ist für Fussgänger in 30 Minuten von Uznach aus zu erreichen: ein schönes Dokument handwerklichen Könnens aus dem Jahr 1917. Während meines Besuchs schien gerade die Abendsonne durch die rundfensterartigen Öffnungen, die in einem kleinen Vorbau eingelassen sind.
 
Fazit
Die Lehre: Naturschutz, Landschaftsschutz und Ortsbildschutz sowie Einfühlungsvermögen bei der Planung von Neubauten aller Art zahlen sich beim Gesamterlebnis aus. Ideal ist es, wenn die Ansprüche von Natur, Landschaft und des Menschen mit seinem unbändigen Entfaltungsdrang in Übereinstimmung gebracht werden können – und meistens bedingen sich solche Erfordernisse sogar gegenseitig, nicht allein in der Linthebene.
 
Auf der bereits angesprochenen Gedenktafel in der Grynau steht in weiser Voraussicht zum Linthwerk: „Eine gelöste Aufgabe und trotzdem eine bleibende Herausforderung. Technisch, wirtschaftlich, politisch.“ Und – wie ich beifügen möchte – „ökologisch“. Laut einer Inschrift im Inneren der gedeckten Aabachbrücke wird auf die Frage „Wohin? Wohin?“ der Wunsch ausgesprochen, der Übergang möge uns zum „ewigen Glücke“ führen.
 
Bis dorthin ist zweifellos noch ein weiter Weg.
 
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