Textatelier
BLOG vom: 07.11.2008

Altersbedingt – altersgemäss? Bedingt oder unbedingt

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Ich greife den Faden zu diesem Blog aus einem früheren auf: Früh- und Spätzünder – bis zur tödlichen Einsamkeit vom 14.01.2006.
 
Vorlieben und Abneigungen prägen sich früh im Leben. Das hängt, wenigstens aus meiner Sicht davon ab, was mir Freude bereitet oder Verdruss beschert. Ich schrieb schon im zarten Schulalter gern Aufsätze, und dies trieb mich voran. Ich habe diese Vorliebe bis heute bewahrt. Hingegen bin ich in der Rechenkunst eine Nuss geblieben – und dies ebenfalls bis auf den heutigen Tag.
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Die Zeitung vermeldete am 31. Oktober 2008 unter dem Titel „The bravest pensioner“ (der mutigste Pensionierte), wie am helllichten Tag ein über 80-jähriger Mann den Raubzug von 2 mit Hauben getarnten Jugendlichen in ein Londoner Juweliergeschäft verhinderte. Sie schwangen und schlugen mit dem Vorschlaghammer auf die Schaufenster ein. Rund 50 Gaffer sahen aus sicherer Distanz diesem Raubversuch zu. Da trat der betagte Herr forsch auf einen der Kerle zu, packte ihn von hinten am Kragen und entriss ihm die Haube. Seine Identität war entblösst. Beide nahmen sofort Reissaus. Der alte Herr erwischte den nächsten Bus, der sich eben der Haltestelle näherte, als ob nichts geschehen war. Das nenne ich Zivilcourage! Nebenfrage: Hätte ich an seiner Stelle ebenso gehandelt? Ich bezweifle es.
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Ein junger Schüler von der „Rutlish High School“ fotografierte im Wimbledon-Bahnhof für ein Schulprojekt. Die Polizei griff ihn sofort als Terrorist verdächtigt auf. Er wurde einer Leibesvisite unterzogen. Schuldig oder nicht, wird dieser Vorfall hinter seinem Namen vermerkt. Er kann erst nach 6 Jahren gelöscht werden und wird jedesmal aufblitzen, wenn er sich um eine Stelle bewirbt. Nur dank der resoluten Einsprache seiner Eltern und vom Rektor der Schule unterstützt, wurde dieser Eintrag jetzt gelöscht. Wird dieses Erlebnis seine Freude am Fotografieren verhunzen? Ich hoffe sehr, dass er seine Freude weiterhin pflegt und vielleicht zum leidenschaftlichen Berufsfotografen wird – trotz des ungerechtfertigten Verdachts.
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Heute erfuhr ich aus den Frühnachrichten, dass ein Schüler, der frühmorgens Zeitungen austrug, das Leben eines 82-jährigen Mannes gerettet hatte. Rauch entquoll aus dem an der Haustüre angebrachten Schlitz des Briefkastens. Der junge Held rannte sofort ins Nachbarshaus und alarmierte die Feuerwehr, die gerade noch rechtzeitig eintraf. Des Mannes Bratpfanne hatte Feuer gefangen. Der betagte Mann war eingeschlafen und wäre von selbst nicht mehr erwacht. Aus seinem Lebensretter wird gewiss ein rechtschaffener, verantwortungsbewusster Mann werden.
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Mit einem gedanklichen Seitensprung stelle ich mir jetzt die Frage, wie ich doch viele Jahrringe an meinem Lebensbaum angesetzt habe: „Wieweit haben mich gute oder schlechte Erfahrungen beeinflusst?“ Gewisse widrige Erfahrungen im Umgang mit Menschen haben meine einst tief verwurzelte Gutgläubigkeit gewissermassen mit einer guten Dosis Skepsis gedrosselt. Nach wie vor lege ich grossen Wert auf „gut Treu und Glauben“, den Umständen entsprechend angemessen. Als Fallbeispiel verweise ich auf mein Blog vom 12.01.2008: Hochinnovativ: Vom Trugschein bis zum SalPeter-Betrug.
 
Die Denkfähigkeit wird vom analytischen Vermögen gestärkt, folgere ich, und fördert damit auch die kritische Fähigkeit, unerlässliche Voraussetzungen in vielen Berufen und nützlich auch in vielen ausserberuflichen Lebenslagen.
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Wie lassen sich die beiden Stichworte „altersbedingt – altersgemäss“ in Einklang bringen? Wann habe ich zum letzten Mal einen Purzelbaum geschlagen? Das war vor etwa 15 Jahren. Ich wollte mir beweisen, dass ich nach wie vor „gut im Schuss“ war. Ich schlug wirklich hart auf dem Rücken auf und musste einsehen, dass ich mich besser altersgemäss verhalten sollte, denn die Knochen sind nicht mehr so geschmeidig wie einst. So unterlasse ich es, weiterhin auf hohe Leitern zu steigen oder die Äpfel von den obersten Zweigen des alten Apfelbaums zu ernten.
 
Inzwischen ist der alte Apfelbaum abgestorben – altersbedingt.
 
Zum Glück kann ich mich weiterhin von meinen Vorlieben bekömmlicher Art wegleiten lassen, die weiterhin Sprösslinge treiben. „Que ça dure“, sagt der Franzose, und ich sage mit ihm: „Möge das dauern.“
 
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