Textatelier
BLOG vom: 24.08.2009

Sogenannt oder so genannt? Wer sozusagen die Wahl hat ...

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Die teilweise recht umfangreichen Blogs, die wir täglich ins Netz stellen, sind für uns alle Beteiligten immer wieder ein Anlass zu manchmal noch längeren Diskussionen über die richtige Schreibweise. Unser Korrektorat umfasst im Moment mehrere Personen – ich nenne sie hier in der Reihenfolge des Eintreffens ihrer Korrekturen:
 
Gleich nach Mitternacht, wenn das neue Blog ins Netz eingespeist wird und es auf Cebu 06:00 Uhr (bzw. 07:00 Uhr Winterzeit) ist, wird es von meinem Bruder Rolf P. Hess gründlich unter die Lupe genommen, meistens während der Elektrorasur. Er lebt seit Jahrzehnten in Asien, und das Englisch ist gewissermassen zu seiner 2. Muttersprache geworden, ohne dass das Deutsch dabei irgendeinen Schaden genommen hätte. Er spricht seinen Ostschweizer Dialekt noch genau so wie früher, und auch sein Schriftdeutsch ist untadelig. Er pflegt diese Sprache und hat sich einen Sport daraus gemacht, meine Wortsalate kritisch durchzupflügen, nicht nur auf falsche Schreibweisen, sondern auch auf Sinn störende (Getrenntschreibung nach neuem Duden) Formulierungen und sogar auf falsch wiedergegebene Namen, Zahlen usf. hin. Und dann fragt er mich, weshalb ich das so und nicht anders geschrieben habe, ob er das bloss als falsch empfinde oder ob es tatsächlich falsch sei. Stellen, die er als falsch empfindet, markiert er mit gelber Farbe, Änderungen, die der Duden vorschlägt, violett und Formulierungen, die ich seiner Ansicht nach unbedingt nochmals überdenken und überprüfen muss, mit Grün. Diese Sprachakrobatik leitet jeden neuen Tag ein. Unverzüglich merze ich dann alle Fehler aus – wenigstens die aufgefundenen. Und wenn ich alles korrigiert habe, schaut Rolf mit Argusaugen nach, ob ich denn alles korrekt übertragen habe.
 
Rolf hat dieser Tage den elektronischen Korrektur-Duden in seinen Computer installiert, offenbar eine unglaublich komplizierte Sache, und dann festgestellt, dass selbst Duden-Leute Fehler machen. Aus seinem E-Mail aus Cebu: „Der elektronische Duden ist okay, aber wenn ich das Programm im Outlook oder Word laufen lasse, sagt es richtig, dass ,korektor’ nicht im Wörterbuch vorhanden ist, und schlägt dann vor, dass ich ,Korektor’ schreiben soll. Die brauchen einen qualifizierten Software-Kor(r)ektor, diese Clowns.“
 
Nach dem Frühstück MEZ tritt dann in geistiger Frische der 2. Korrektor in Aktion: Heinz Scholz im süddeutschen Schopfheim. In dem bereits korrigierten Blog findet er mit deutscher Gründlichkeit immer noch den einen oder anderen „kleinen Fehler“, wie er jeweils beschwichtigend schreibt. Es kommt auch vor, dass ich beim Lektorat einen Verschrieb eingebaut habe. Ganz allgemein bestätigt sich bei diesem Gegenlesen immer wieder, dass man vor allem in den eigenen Texten die Fehler übersieht, weil man seine Satzfolge, ist sie einmal zu Papier oder Elektronik gebracht, ja kennt und nur noch überfliegt, wahrscheinlich zeilen- und satzweise. Das Gehirn von Viellesern und Vielschreibern ist darauf abgerichtet, Schreibfehler auszublenden. Denn es genügt ja, eine Aussage zu verstehen. Wenn es heisst: „Die Sone schneint“ ... werden wir ohne Weiteres „Die Sonne scheint“ lesen, denn es genügt durchaus, dass einige Buchstaben vor allem am Anfang und am Ende eines Worts richtig sind, um den Wortsinn zu erkennen.
 
Begegnet man einem Text zum ersten Mal, wird man ihn allerdings wesentlich langsamer als einen eigenen lesen. Deshalb ist für einen aussenstehenden Korrektor die Fehler-Trefferquote wesentlich höher. Und aus diesem Grund bin ich auch ein Befürworter des Gegenlesens, das wir uns im Textatelier.com zur angenehmen, erbaulichen Pflicht gemacht haben. Das dient eindeutig der Qualitätsverbesserung. Ich selber lese überhaupt alles, was unter www.textatelier.com ins Netz gestellt wird, Wort für Wort, vor allem, weil es mich interessiert, und noch kein einziger Autor nahm mir übel, wenn ich etwas zur Perfektionierung beitragen konnte. Ich bin selber ja auch ausserordentlich dankbar für entsprechende Hinweise.
 
Ungefähr monatlich schaut der pensionierte professionelle Korrektor Hans Kurt Berner, Biberstein AG, die gesammelten Werke, von denen ich ihm einen Ausdruck bringe, durch. Und es ist vielleicht 1 Prozent der Texte, an deren Ende er seinen Korrekturhaken hinsetzt, ohne weiter oben mit dem Rotstift eingegriffen zu haben. Er beobachtet die fehlenden Ü-Punkte über dem Muesli ebenso wie die fehlenden Bindestriche bei der 5 Cent Münze – und wehe, wenn ein Gedankenstrich (‒) mit einem Bindestrichstrich (-) verwechselt worden ist. Hans speichert alle unbekannten Namen und neu auftauchenden Fachwörter in seinem Gehirn und reagiert sofort, wenn sie später in anderer Schreibweise auftauchen. Dann setzt er ein Fragezeichen und verbindet unterschiedlich geschriebene Wörter mit einem Strich ... „Was ist da los...?“ ist seine Botschaft. Der Autor soll abklären und bereinigen.
 
Man macht sich gar keine Vorstellung davon, was in einem Text alles schieflaufen (schief laufen?) kann. Nach mehreren total verunglückten Deutschreformen weiss kein Mensch mehr, was denn eigentlich richtig oder falsch ist. Und die 25. Auflage des Dudens hat auch keine so wasserklaren Vorstellungen mehr und lässt vielerorts unterschiedliche Schreibweisen zu. Man hat die Wahl, selbst zwischen Joghurt und Jogurt, nur das Yoghurt ist aufgegessen und verschwunden. Aber dann steht noch immer die Frage im Raum, ob man der Joghurt (Deutschland) oder nach österreichischer und schweizerischer Manier das Joghurt schreiben soll. Eine Umschreibung, um all den Ungewissheiten aus dem Wege zu gehen, wäre etwas kompliziert: durch Zusatz bestimmter Milchsäurebakterien gewonnene Art Sauermilch.
 
Manchmal muss man sich einfach aus freien Stücken und nach persönlichem Empfinden für eine Schreibweise entschliessen. So haben wir es uns im Textatelier.com zur Angewohnheit gemacht, das Wort „sogenannt“ getrennt zu schreiben: „so genannt.“ Der Duden lässt beide Schreibweisen zu, was die Sache nicht einfacher macht. In seinem Begleitbrief zu den Korrekturanmerkungen zum Blog vom 18.08.2009 warf Rolf deshalb die Frage auf, ob nicht vielleicht zwischen sogenannt und so genannt eine Bedeutungsnuance liegen könnte. Man sprach und spricht zum Beispiel vom Herrn Bauer, obschon der so Genannte nie in der Landwirtschaft tätig war. Im Übrigen ist eine solche Differenzierung im Duden und auch in anderen Wörterbüchern nicht auszumachen. Zudem glaube ich, dass nur wenige Leser darauf ansprechen würden, wenn es die Nuancierung gäbe. Denn die Sprache tendiert eindeutig einer Vereinfachung entgegen, verliert dadurch an Aussagekraft, an Feinheiten. Das Sprachgefühl verkümmert.
 
Nach meinem persönlichen Empfinden ist das so genannt (Getrenntschreibung) der Zusammenschreibung deshalb vorzuziehen, weil man etwas so nennt und nicht etwas sonennt. Rolf hat dafür ebenfalls Verständnis, weil es selbst im Englischen für das gleiche Wort eine Trennung (dort mit Bindestrich) gibt: so-called. Das bedeutet „Commonly designated by the name or term specified” (allgemein so bezeichnet) oder aber man drückt damit, wie im Deutschen übrigens auch, die Meinung aus, dass der Name unpassend sei (Expressing one’s view that such a name or term is inappropriate) – zum Beispiel: Seine so genannten Freunde oder die so genannten Experten, in beiden Fällen offensichtlich keine echten.
 
Dank seines englischen Sprachumfelds fällt es Rolf natürlich sofort auf, wenn ich die Mehrzahl von Teenager fälschlicherweise mit Teenager statt Teenagers schreibe, obschon wir in Deutsch, das zunehmend anglophil angehaucht ist, noch immer von einer Gruppe Wanderer schreiben, nicht von Wanderers …
 
Und so kämpfen wir denn mit der Sprache und manchmal mit den Sprachen weiter, diskutieren, ob es wirs oder wir’s, ists oder ist’s heisst (das alles ist erlaubt), lassen uns vom Duden inspirieren, wo er Sinnvolles von sich gibt, und entscheiden im Zweifelsfall für die leichtere Lesbarkeit, die bessere Verständlichkeit, also für den Leser. Wir erfreuen uns echter Leser und nicht bloss so genannter.
 
Falls Sie, liebe Leser, trotz all unserer Anstrengungen noch weitere Fehler finden, berichten Sie uns bitte. Die Chance, solche zu entdecken, bleibt weiterhin intakt.
 
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