Textatelier
BLOG vom: 10.02.2011

GB-Presse: Britishness, Multikultur und Julian Assange

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Der aufmerksame Zeitungsleser hat oft Grund, den Kopf zu schütteln, genau wie ich gestern bei der Zeitungslektüre.
 
David Camerons Traum von der „Big Society“
Der britische Premier David Cameron muss viele Reden halten, in- und ausserhalb der Partei, sei es in Davos CH oder in seiner letzten Ansprache vom 06.02.2011 in München.
 
Er stellt fest, dass die vor kurzem noch gepriesene Multikultur versagt hat. Er fordert die Einwanderer auf, die britischen Werte (British Values) zu umarmen. Damit werden sie umgarnt. Das Stichwort „Britishness“ triumphiert in den Schlagzeilen der Presse. Der schlappe Liberalismus soll durch einen „aktiven, muskulären Liberalismus“ ersetzt werden. Muskulär?
 
Neuankömmlinge ins Land müssen sich in der Landessprache einfinden, die Demokratie anerkennen und sich wie Briten benehmen. Die Toleranz wird gegen die Hintertreppe gedrängt. Gewiss sollen die Aufwiegler des Hasses und des Terrors – auf den Islam gemünzt – keineswegs Oberhand gewinnen. Dazu reichen die bestehenden Gesetze aus. Der Rassenhass, die Unterdrückung der Frauen, inbegriffen Zwangsheiraten, wird bestraft, wie auch das Basteln von Bomben aus Kunstdünger. So soll und muss es sein.
 
Aber wie ist es um die allgemeine Redefreiheit bestellt? Oh Voltaire, du hättest es heute mit der Redefreiheit schwer in England, wo die Intoleranz den gesunden Menschenverstand überwuchert. Das Wort Toleranz ist zum Kaugummi-Begriff geworden, an dem Anwälte kleben bleiben. Ein Hotelbesitzer verweigerte die Aufnahme eines schwulen Paars im Einzelzimmer mit Doppelbett. Das Paar hat ihn angeklagt.
 
Auf der gesellschaftlichen Ebene werden Bibliotheken als eine der ehrwürdigen und erhaltenswerten Institutionen der „Big Society“ geschlossen. Bibliotheken sind der Treffpunkt für Alt und Jung und bieten erst noch Unterschlupf für Pensionierte, die sich die überspitzten Heizungskosten nicht leisten können. Dank der Bibliothek meistert meine Frau Lily heute das E-Mail-Programm und das Internet.
 
Kinderzulagen werden abgebaut. Der Wohlfahrtsstaat serbelt dahin wie eine Chimäre. Wer kann und will das tolerieren? Demonstrationen verpuffen wirkungslos und werden von der Presse kaum beachtet, es sei denn, es komme zu Krawallen. Landesweite Proteste gegen die Überfälle in Irak und Afghanistan wurden von Tony Blair und Konsorten ignoriert. Der Gipfel der Scheindemokratie ist erreicht. Das Wort „unbritisch“ wird gewiss bald aufblitzen, wie seinerzeit in den USA der Ausdruck „unamerikanisch“, womit jede Debatte im vornherein abwürgt wurde.
 
Wie ist mein Verhältnis zu britischen Werten? Ich anerkenne und schätze die Toleranz der Briten, die jetzt leider zunehmend eingekesselt wird, auch ihren ausgeprägten Sinn für Humor, der manchen Meinungsaufprall entschärft. Noch ist die Höflichkeit der Engländer nicht ausgestorben, wohl aber arg bedrängt. Viele Leute aus aller Welt haben sich in England eingebürgert und ihre Bräuche bewahrt. Das freut mich, dieses buntfarbige Bild der Kulturen. Die Bräuche haben die Einheitskultur nicht nur aufgelockert, sondern mit ihrer Diversität bereichert. Mischehen kitten in der Regel das gegenseitige Verständnis, verbunden mit Respekt. Unser Bekanntenkreis in Wimbledon ist ethnisch durchmischt. Das bereichert auch den Speisezettel. Und habe ich Heimweh, geniesse ich meine Rösti mit Zwiebeln und Speck, durchmischt und mit Spiegeleiern garniert.
 
Ein Thema der „Britishness“, das mich eiskalt lässt, ist die anstehende „königliche Hochzeit“. Der Souvenirhandel ist schon im vollem Schwung: Jeder Krug, jeder Mug ist mit einer Krone verziert, Geschirrtücher und Tapetenrollen desgleichen. Verschont sind bisher Toilettenrollen.
 
„Assange riskiert Verbannung nach Guantanamo"
Soweit die Titelüberschrift im „Evening Standard“ vom 07.02.2011. Heute wird gerichtlich bestimmt, ob der Gründer von „Wikileaks“, Julian Assange, nach Schweden ausgeliefert wird oder nicht. Er wird der Vergewaltigung von 2 Frauen bezichtigt und bestreitet die Anklage. Jemina Khan, Tony Benn und andere einflussreiche Leute stehen ihm zur Seite. Sein Verteidiger sagte: „In der Tat, falls Herr Assange deportiert wird, besteht die Gefahr, dass Schweden ihn an die USA ausliefern wird. Dort könnte ihn die Todesstrafe erwarten. Assange konnte sich Unterlagen sichern, die tief hinter die Kulisse von amerikanischen Machenschaften blicken lassen.“ – „This totally un-american attitude deserves the death penalty …“ Der gewaltträchtige Uncle Sam kennt kein Erbarmen.
 
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