Textatelier
BLOG vom: 04.08.2011

Balance zwischen gutem und schlechtem Geschmack

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
In diesem Aufsatz klammere ich die unterschiedlichen kulinarischen Vorlieben und Abneigungen aus, ein Thema der Esskultur, ebenso auch weitgehend die sozialen Aspekte wie Klassen- oder Standesunterschiede, welche – so wird gesagt – ebenfalls mit gutem und schlechtem Geschmack zu tun haben sollen.
 
Das Bildungsgefälle sei hier hingegen einbezogen: Auch ein Arbeiterkind kann einen gleichrangigen Bildungsstand erreichen, wie er gemeinhin den Kindern von Akademikern (wiewohl leichter) zugänglich ist.
 
Von der philosophischen Warte aus betrachtet, haben u. a. Immanuel Kant (1724 bis 1804), Georg Simmel (1848 bis 1918) und Pierre Bourdieu (1930 bis 2002) unterschiedliche Thesen zum Thema Geschmack verfolgt, die uns hier ebenfalls nicht beschäftigen sollen. Ich selbst unterschreibe Kants Gedankengang, wonach Geschmack eng mit der Ästhetik verbunden ist, im schroffen Gegensatz zum heutigen Materialismus namens Konsum, der eine Nivellierung oder „Gleichmacherei“ des Geschmacks vorantreibt.
 
Ich kann dem berühmten Ausspruch „De gustibus non est disputandum“ nur beipflichten. Der Geschmack ist kein Zankapfel, doch darüber lässt sich schreiben. Ich möchte gern dem guten Geschmack mit Schwungfedern ausstatten, einfach, weil zu viel schlechter Geschmack vorherrscht.
 
Zuerst nenne ich einige Vorbedingungen, die als Stützpfeiler des guten Geschmack dienen sollen.
 
Umgangsformen
Gegen grobschlächtiges Benehmen habe ich etwas. Die guten Manieren leiden mehr denn je an Schwindsucht. Ganz allgemein nehmen Leute wenig Rücksichten aufeinander, drängeln sich überall vor. Jugendliche treten in den öffentlichen Verkehrsmitteln ihre Sitzplätze selten an ältere, schwangere oder behinderte Leute ab.
 
Die mit Schimpfwörtern und Flüchen durchsetzte Sprache widerspiegelt den Mangel an guten Umgangsformen und wird beim geringsten Anlass ausgespuckt. Wer unflätiges Benehmen rügt, wird grob abgekanzelt.
 
Fazit: Es sind wahre und selten gewordene Lichtblicke im städtischen Alltagsleben, wenn sich jemand bedankt oder gar entschuldigt. Auf dem Land haben sich die alten Sitten besser erhalten.
 
Kleider machen Leute – oder auch nicht
Jetzt, im Sommer, sieht man viele Frauen, junge wie alte, die ihren (oft mit Botox aufgepäppelten) Busen schamlos zur Schau stellen. Am Strand mag das hingehen, doch auf den Strassen wirkt das vulgär, schlampig und abstossend. Ein Verstoss gegen den guten Geschmack. Dagegen gibt es bloss eines: wegschauen statt gaffen.
 
Es ist nicht notwendig, sich nach der letzten Mode zu kleiden. Wer sauber gekleidet ist, wird sich auch regelmässig waschen oder duschen – was vorteilhaft unangenehme Körpergerüche verhindert, gerade jetzt, wo sich in den übervölkerten Städten die Sommerhitze ausbreitet. Wer sauber auftritt, wird auch leere Plastikflaschen, zerkauten Kaugummi, ausgelesene Zeitungen, Zigarettenstummel und Speisereste aller Art, worunter auch die berüchtigte Bananenschale, im Abfallkübel versorgen.
 
Der gute Schulsack
Das ist eine weitere Vorbedingung, die den guten Geschmack stärkt: Der gute Schulsack beginnt im Elternhaus. Kinder aus zerrütteten Ehen fehlt der bekömmliche Verhaltenskompass sehr oft. Die Schule kann ein solches Manko kaum wettmachen. Eine neue Generation von unangepassten Erwachsenen entsteht, die sich rüpelhaft breitmacht.
 
Je besser der Schulsack gestopft ist, desto besser kann der Mensch die mit dem guten Geschmack verbundenen Vorteile, oder besser gesagt:  Wohltaten, geniessen und damit zugleich den Auswüchsen des schlechten Geschmacks entgegenwirken.
 
Die Wohnkultur im Familienheim
Wie der Mensch zuhause lebt und leibt, verschafft dem Besucher mancherlei Einblicke. Ist der Haushalt gepflegt, die Küche sauber? Beherrscht der Fernseher das Wohnzimmer und ist er von durchgesessenen und fleckigen Polstermöbel umringt? Sind auf dem Tisch Bierdosen gehäuft oder findet sich dort eine Vase mit Blumen, sogar ein Buch?
 
Aufgepasst! Mein Aufsatz soll weder in eine Moralpredigt noch in eine Geschmacksfibel ausarten. So springe ich hier mit meinen eigenen geschmacksbezogenen Vorlieben ein. Der Minimalismus in Wohnräumen herrscht gegenwärtig vor. Meine Frau bevorzugt ihn, aber ich als „Barockmensch“ und Sammler von dekorativen Objekten habe die Grenzen ihrer Toleranz erreicht. Gut so.
 
Ich habe meine Fund- und Erbstücke lieb gewonnen. Sie beschwören Erinnerungen herauf, wie etwa die alte Bauerntruhe und der bronzene Polentakochtopf, die mein Vater im Aktivdienst hoch in den Bergen entdeckt hatte. Wie er diese ins Tal bringen konnte, bleibt mir rätselhaft.
 
Die Truhe hat ein Bergbauer im Winter von 1746 liebevoll als Hochzeitstruhe gezimmert und mit Schnitzereien geschmückt. Auf der linken Seite ist schwungvoll ein Herz ins Arvenholz geschnitzt – mit den Initialen des Brautpaars M und T; auf der rechten Wand picken links und rechts je eine Henne in der Futterkrippe. Viele Jahre später wurde dieses Erbschaftsstück versiegelt – einige Spuren des Siegellacks sind erhalten geblieben. Eher hastig wurde obendrein ein Schloss aus Schmiedeisen eingebaut. Welche Schätze mochte die Truhe eines armen Bergbauers enthalten habe? Darüber werde ich vielleicht eines Tages eine Geschichte schreiben. Aus dem Polentakübel ist ein Topf für Pflanzen geworden. Darüber tickt laut eine alte Wanduhr aus Belgien und schlägt laut die halben und vollen Stunden.
 
Die Wohltaten des guten Geschmacks
Wer ein Dach überm Kopf hat, seinen Lebensunterhalt verdient und erst noch mit gutem Schulsack gerüstet ist, gewinnt Spielraum, und er kann die mannigfaltigen Wohltaten des guten Geschmacks geniessen. Der gute Geschmack gedeiht im Stillen, abseits des Getümmels. Es genügt, ein Steckenpferd zu reiten. Die Natur wartet dem neugierigen Wanderer mit bewundernswerten Geschmacksproben auf. Und immer wieder ist es das Paradies der Künste, seien es die Musik, die Malerei oder die Literatur, die den Kenner und Liebhaber bezirzen und animieren. Der gute Geschmack ist kein Privileg des Standes, sondern wartet jedem erschliessbar auf und schützt uns erst noch vor dem Schlechten.
 
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