Textatelier
BLOG vom: 07.05.2014

Cornelius Gurlitt – ein Kunstsammler der ganz anderen Art

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Rickenbach/Beromünster LU
 
Cornelius Gurlitt, Nachkomme einer der bedeutendsten deutschen Kunsthändlerfamilien, geboren in Hamburg am 28. Dezember 1932, also dem Tag der heiligen unschuldigen Kinder, verstorben an den Folgen einer Herzoperation am 5. Mai 2014 in München, gehörte gleichzeitig zu den umstrittensten wie auch auf seine Weise zu den verdientesten Konservatoren der seinerzeit „entarteten“, später aber dank dieser einstigen Klassifikation mit höchster Wertsteigerung ausgezeichneten Kunst aus einer denkwürdigen Epoche der Kunstgeschichte.
 
Die Pauschalverleumdung, die Cornelius Gurlitt immer wieder zurückwies, lautete, von Nazi-Raubkunst gelebt zu haben. Dies verhielt sich insoweit komplexer, als Gurlitt und sein Vater Hildebrand Gurlitt, selber „jüdisch versippt“, nach derzeitigem Wissensstand in keinem Fall die Notlage jüdischer Künstler und Kunsthändler böswillig ausgenützt haben. Sie gingen das Risiko ein, damalige sogenannt entartete Kunst hauptsächlich von staatlichen Institutionen aufzukaufen, um dieselbe zum Beispiel in die Schweiz und anderswohin weiterzuvermitteln.
 
Selbstverständlich wollten die Gurlitts, als Kunsthandelnde, von dieser gewagten Tätigkeit, wenn möglich, leben. Dass diese Praxis damals und zumal später in den Geruch höchster Umstrittenheit geraten musste, wurde nicht nur von sogenannt politisch Korrekten herumerzählt. In einem antisemitischen Blog, der hier nicht weiter zu belegen ist, lesen wir mit Datum vom 5. November 2013: „Der Jude Hildebrand Gurlitt und dessen Sohn Cornelius machen auch heute noch gute Geschäfte mit der entarteten Kunst ihrer Glaubensbrüder, damals wie heute.“
 
Im Frühjahr 2011 entdeckten deutsche Fahnder 1500 Meisterwerke der klassischen Moderne in einer Münchner Wohnung. Die Bundesregierung wusste bereits seit längerem über den Fund von etwa 1500 bislang verschollenen Werken aus der Zeit der klassischen Moderne in München Bescheid. Durch Vermittlung von Experten, die sich mit „entarteter Kunst“ und von den Nationalsozialisten enteigneter Kunst auskennen, wurden die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Augsburg unterstützt. Dieselbe erklärte dazu, sie ermittle gegen Cornelius Gurlitt wegen „eines dem Steuergeheimnis unterliegenden strafbaren Sachverhalts“. Gurlitt, der in den letzten Jahren zurückgezogen lebte, vorwiegend von der überwiegend von seinem Vater geerbten Kunstsammlung, versuchte dieselbe weitgehend zu erhalten, ohne sie durch eigene Käufe zu erweitern.
 
Gemäss Wikipedia nahm Gurlitt im November 2013 zu den Vorwürfen gegen ihn Stellung. In einem Interview mit dem Magazin „Der Spiegel“ sagte er, die Justiz und die Medien stellten die Zusammenhänge falsch dar. Alle Kunstwerke seien von seinem Vater rechtmässig erworben und an ihn vererbt worden. An eine freiwillige Rückgabe denke er nicht.
 
Sein Anwalt widersprach Ende Januar 2014 gegenüber der New York Times dieser Darstellung des Spiegels; sein Mandant sei immer an einer fairen und gerechten Lösung interessiert gewesen.
 
Im Februar 2014 liess ein Vertrauter Gurlitts mehr als 60 Kunstwerke aus Gurlitts Haus in Salzburg sicherstellen, darunter Werke von Claude Monet, Pierre-Auguste Renoir und Pablo Picasso, um sie vor Einbruch und Diebstahl zu schützen; die Werke sollen auch auf ihre Herkunft untersucht werden.
 
Ende März 2014 gaben die Anwälte und Vertreter Gurlitts bekannt, dass der Salzburger Teil der Sammlung viermal so gross sei wie bis dato angenommen und insgesamt 238 Kunstgegenstände ‒ darunter 39 Ölgemälde ‒ umfasse. Die weiteren Werke wurden bei abermaligen Inspektionen des Hauses, welches Gurlitt seit 2011 nicht mehr betreten habe, in zuvor nicht zugänglichen Teilen des Gebäudes entdeckt.
 
Am 14. Februar 2014 legten Anwälte von Gurlitt beim Amtsgericht Augsburg Beschwerde gegen die Beschlagnahme der Kunstsammlung ein. Die Anwälte fordern die Rückgabe der Sammlung wegen formeller Mängel des damaligen Gerichtsbeschlusses. Die Beschlagnahme der Bilder verstosse gegen das Prinzip der Verhältnismässigkeit.
 
Wie am 26. März 2014 bekannt wurde, beabsichtigte Gurlitt, alle Bilder, die aus jüdischem Besitz geraubt wurden, an die Eigentümer oder deren Nachfahren zurückzugeben. Laut Medienberichten kam es im April 2014 zu einer Vereinbarung zwischen Gurlitt, dem bayrischen Justizministerium und der deutschen Bundesregierung. Danach stelle Gurlitt alle als belastend geltenden Werke für ein Jahr der Provenienzforschung zur Verfügung. Die Kosten dieser Recherchen sollten der Bund und das Land Bayern tragen. Auch werde Gurlitt all diejenigen Werke, auf die Dritte Anspruch erheben, in treuhänderischer Verwahrung belassen. Alle anderen Werke, laut Aussage eines Anwalts Gurlitts der weitaus grösste Teil der Sammlung, sollten Gurlitt demnächst zurückgegeben werden.
 
Über alles gesehen gehörte Cornelius Gurlitt, dessen gleichnamiger Grossvater schon im 19. Jahrhundert Kunsthandel betrieb, zu einer Familie, deren Geschichte im höchsten Grade einer historisch-wissenschaftlichen Darstellung wert wäre. Die Behauptung, das, was sie über Generationen betrieben hätten, sei anrüchig, ist nicht a priori besser belegt als die angebliche oder wirkliche Anrüchigkeit der Tätigkeit anderer Kunsthändler von jüdischer und ebenfalls nichtjüdischer Provenienz. Ein risikoreiches Geschäft. Es betraf keineswegs nur enteignete oder unter suboptimalen Bedingungen aufgekaufte Kunst aus der Zeit des Nationalsozialismus. In ebenfalls sehr erheblichem Umfang wurde auch im Machtbereich des Kommunismus Kunst entweder enteignet oder unter schwierigen Bedingungen „geflüchtet“. Bei diesen Geschichten gab es Gewinner und Verlierer. Der Verdacht von Gaunereien war nie leicht von der Hand zu weisen. Nicht zu unterschätzen ist heute auch das Drohpotenzial amerikanischer Anwälte.
 
Das Haus Gurlitt und auch speziell der verstorbene Cornelius Gurlitt bleiben in Erinnerung als einer der denkwürdigsten Kunsthändler Europas. Bis zum Beweis des Gegenteils gilt für ihn die Unschuldsvermutung. Letztlich trugen die Aktivitäten der Gurlitts massgeblich dazu bei, dass die entsprechenden, einst hochumstrittenen, jetzt dafür umso wertvolleren Kunstwerke der Nachwelt überhaupt erhalten blieben. Die Geschichte mit der diffamierenden Beschlagnahmung von „Raubkunst“ dürfte dem alten Herrn bei seinem Ableben buchstäblich zu Herzen gegangen sein.
 
Cornelius Gurlitt, dem man die Liebe zu den von ihm gehorteten Werken nicht absprechen wird, verdient ein respektvolles Andenken, das Lebenswerk seines Familienunternehmens eine nicht nur kriminalistische Erforschung. Dass der hohe Wert und die Wertsteigerung der Kunstwerke mit der Zeit auch ein massives Steuerproblem darstellten und darstellen, kann jenseits moralischer Wertungen zur Kenntnis genommen werden. In diesem Sinn droht Besitzern wertvoller Kunst in fast jeder Generation eine Art Enteignung: mit dem Unterschied, dass Plünderungsfeldzüge des modernen Steuerstaates einen besseren Ruf haben als Arisierungen und kommunistisch motivierte Enteignungen.
 
Cornelius Gurlitt, dem Vielverdächtigten, aber letztlich nicht endgültig Belasteten, möge die Erde leicht sein.
 
 
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