Textatelier
BLOG vom: 18.11.2015

Nichts beschönigen heisst zuerst: Terroristen ernstnehmen!

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Beromünster LU/CH


Eine persönliche Antwort auf Kritik an meinem Beitrag zu den Attentaten in „Paris“

Ich verstehe die Empörung von Menschen, die sich nie näher mit Terrorismus befasst haben, über meine Charakterisierung eines in Frankreich eingebürgerten Attentäters als eines „Europäers eines neuen Typus“. Ich sehe darin die Weigerung, Veränderung innerhalb unserer Zivilisation wahrzunehmen. Für einige, welche auf unserem Kontinent die Meinungsszene beherrschen, produzieren Einwanderung und Asyl nur „angebliche Probleme“. Das grösste Problem scheint zu sein, dass einige Mitbürger das Vokabular des politisch korrekten Diskurses noch nicht beherrschen, im Einzelfall vor empörten Äusserungen im Netz, Demonstrationen oder gar legalen und illegalen Widerstandshandlungen nicht zurückschrecken. Gefordert wird vielerorts die Unterdrückung der freien Meinungsäusserung im Internet. Der Spiegel, die Frankfurter Allgemeine, DIE ZEIT und andere sogenannt liberale Organe unterdrücken ihren Blog- und Leserforumteil schon länger systematisch, wenn es um wirklich ernsthafte Themen geht. Eines der Gründungsanliegen in www.textatelier.com von meinem lieben verstorbenen langjährigen Journalistenkollegen und Freund Walter Hess war gerade eben dieses freie Wort.

Nun sind aber weder Conchita Wurst noch Thomas Gottschalk noch viel weniger die am 9. Januar von mir auf www.textatelier.com gewürdigten ermordeten Karikaturisten von „Charlie Hebdo“ Europäer eines neuen Typus, also Conquistadoren mit dem Anspruch, auf diesem Kontinent eine Kulturrevolution durchzusetzen, zumindest aber Europa zum Schauplatz eines schon längst stattfindenden globalen Krieges zu machen. Auf einige der Terroristen, vielleicht alle, trifft dies mit dem neuen Typ des Europäers aber leider zu. Es gälte wohl als rassistisch und verstiesse gegen die Menschenrechtskonvention, eingebürgerte und sogar hier geborene Muslime nicht als Europäer zu betrachten. In Deutschland denkt man ernsthaft daran, die im Massenanmarsch befindlichen Asylbewerber von der Einhaltung verschiedener Gesetze zu dispensieren, ihnen in öffentlichen Verkehrsmitteln freie Fahrt zu gewähren und für sie in Sachen Ausbildungen einschliesslich Hochschule Sonderbedingungen in Erwägung zu ziehen. Die Zumutung, sich über die eigene Identität verbindlich auszuweisen und die gesetzlichen Bedingungen für Asyl zu beweisen, gilt im Prinzip fast nur noch theoretisch. In der Schweiz wäre eigentlich fast allein nur schon aufgrund der vom Souverän beschlossenen für alle Bürger verbindlichen Zwangsgebühren für Radio und Fernsehen sowie wegen der weltweit höchsten Kosten für Krankenkassen die Masseneinwanderung von Asylbewerbern aus Afrika, dem Balkan, Syrien, Irak und Afghanistan nur mit Hilfe von Sonderrechten und Privilegien möglich. Dabei stellen diejenigen, die bewusst als gewaltbereite Eroberer und Kulturrevolutionäre ins Land kommen, eine Minderheit dar. Es war jedoch bereits ein fatales Eigentor, wenn in einer Seminardebatte an der Universität Luzern vermeintlich wohlmeinend von „einem Prozent Extremisten“ gesprochen wurde. Im Prinzip war auch bei den Nationalsozialisten, kommunistischen Revolutionären und Maoisten der Anteil der zum Äussersten Bereiten mutmasslich nie höher oder nicht wesentlich höher. Solche Leute aber nenne ich auf der Grundlage des Buches „Hass – Die Wiederkehr  eines elementaren Gefühls“, Conquistadoren im Sinn von „Europäer eines neuen Typus“. Selbstverständlich behaupte ich nicht, sie seien die einzigen Hasser beziehungsweise die einzige Gefahr auf dem Kontinent. Sofern sie sich aber etwas anders verhalten als wir das sagen wir mal von Helmut Schmidt, Simonetta Sommaruga und dem ebenfalls von mir gewürdigten André Glucksmann gewohnt sind, müssten auch „Meinungsverschiedenheiten“ mit solchen Leuten etwas anders ausgetragen werden als auf herkömmliche philosophische und politische Art. Dies setzt jedoch voraus, dass wir uns nichtsdestotrotz und erst recht um ein Verständnis des neuartigen Phänomens bemühen.

Man kann nicht offene Grenzen fordern und eine multikulturelle Gesellschaft, ohne die aus der unlimitierten Toleranz sich ergebenden Nebenfolgen hinreichend zu bedenken. Dass es zu „Mord und Totschlag“ kommen könne, hat Helmut Schmidt schon vor 30 Jahren voraus gesagt. Die meisten Bücher und öffentlichen Erklärungen von André Glucksmann betonen hauptsächlich dies und fast nichts anderes. Nur Uninformierte können über das, was in Paris abermals passiert ist, überrascht sein. Dass die Täter moralische, politische und religiöse Motive hatten, überdies generalstabsmässig organisiert waren, unterscheidet sie nun mal ziemlich stark von Bankräubern, wie wir sie aus britischen Filmkomödien mit Peter Sellers in der Hauptrolle kennen. Der hypermoralische und also nicht herkömmlich kriminelle Fanatismus, der schon beim linksextremen Terrorismus der Siebzigerjahre festzustellen war, entzieht sich lehrbuchmässigen rein kriminologischen Analysen. Auf dieser Basis bekommt man kein ausreichendes Verständnis für das, was die Menschen einander antun, bloss weil sie ein für allemal recht haben wollen.

Nicht zu unterschätzen ist der kulturrevolutionäre Anspruch des terroristischen Willens. Schon dem Staatsterror von Mao Zedong und dessen chinesischer Kulturrevolution, dem in Sachen Opfern der Islamismus noch lange hinterherhinkt, war trotz einer siebenstelligen Zahl von Opfern mit kriminologischen Argumenten nicht beizukommen. Als Politologe oder politischer Ethnologe musste man sich in die politischen und ideologischen Verhältnisse einarbeiten. Bei Kulturrevolutionären, auch muslimischen, werden im Vergleich zu Bankräubern, die bloss für ein späteres Dasein an der Copacabana ausgesorgt haben wollen, moralische Ansprüche gestellt. Langfristig geht es um Macht und Veränderung der Gesellschaft. Der Schaden, den Bankräuber anstiften, sollte schon deshalb nicht überschätzt werden, weil die entwendete Vermögensmasse in der Regel versicherbar und auch tatsächlich versichert ist. Dies wurde, bei hohem Unterhaltungswert, im Film „Ladykillers“ mit Peter Sellers unter der Regie von Alexander Mackendrick realistisch gezeigt. Eine vergleichbare Komödie über die Attentate von Paris könnte unmöglich inszeniert werden. Eher schon habe ich in meinem Artikel vom Montag oder hier Banküberfälle verharmlost als terroristische Aktionen. Diese stellen nicht bloss einen kriminellen, sondern in noch stärkerem Ausmass einen politischen und im Endeffekt militärischen Ernstfall dar. Das hat Präsident Hollande verstanden. Wegen einem Banküberfall wurde noch nie ein Flugzeugträger in Bewegung gesetzt.

Weswegen interessiere ich mich überhaupt für Terrorismus? Man gestatte mir ein paar persönliche Anmerkungen. Wegen Verdacht, selber ein Terrorist zu sein, wurde ich im Herbst 1972 vom 1.Staatsanwalt des Kantons Aargau, Dr. Hans Müller, später mein Kollege im Aargauer Verfassungsrat, mit einer Hausdurchsuchung beehrt. Man befürchtete, ich wolle das Hochhaus vom „Badener Tagblatt“ in die Luft sprengen; dies obwohl ich im Militär wegen Ungeschicklichkeit vom Handgranatenwerfen dispensiert war. Wanners Chefredaktor Christian Müller, der mich unterdessen für entlastet hält, sicherte damals sein Büro mit einer Pistole. Schon 1970 hielt ich mich, ebenfalls ohne für terroristische Drohungen oder Vorgänge verantwortlich zu sein, zum Zeitpunkt des Absturzes der Swissair Coronado genau einen Kilometer vom Ort des Aufpralls entfernt auf. Ich berichtete am 23. Februar 1970 in der Zeitung „Die Botschaft“ darüber. 1980 war ich ganz kurz vor dem Attentat auf das Oktoberfest in München mit einer Schülergruppe der Kantonsschule Beromünster am Ort des Grauens. In diesem Zusammenhang wurde ich jedoch, wie auch in meiner Heimatgemeinde Würenlingen, nie verdächtigt. Es traf einen aber doch tief. In den 80-er Jahren erteilte ich im Kanton Luzern einen Lehrerfortbildungskurs zur Geschichte des Terrors. Ein damals noch linksextrem orientiertes Mitglied der POCH stellte im Grossen Rat eine kritische Anfrage an Bildungsdirektor Dr. Walter Gut, weshalb man nicht jemand anderen als mich einen solchen Kurs habe halten lassen. Gut war später seinerseits verantwortlich für die Aufarbeitung der Schweizer Fichenaffäre, von der ich mutmasslich genauso betroffen war wie viele damalige Linke. Ich habe jedoch, wie noch andere, etwa mein marxistischer Freund Dr. Franz Keller, mich nicht um Einsichtnahme in die Fiche mit meinem Namen bemüht. Im Vergleich zur ostdeutschen STASI war die Schweizer Fichenaffäre eine Groteske, wiewohl im Ansatz keineswegs harmlos.

2008 hielt ich in Willisau in Gegenwart von Bundesrat Schmid bei der Verabschiedung einer Fliegerabwehr-Einheit als einstiger Ohren- und Augenzeuge eine Ansprache über das Verbrechen von Würenlingen. Ich beklagte, wie neulich Alt Oberrichter Jürg Fehr, die Feigheit der Schweizer Behörden, die sich stets geweigert haben, die bekannten Täter ernsthaft zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Als Schüler des Philosophen Hermann Lübbe setzte ich mich mit den ideologischen Motiven von Terror auseinander. Das Wichtigste war, was nunmehr bei meinem letzten Artikel kritisiert wurde, der Unterschied zwischen Terrorismus und gewöhnlicher Kriminalität. Wer diese Differenzierungen nicht sehen will, sie als Verharmlosung deutet, dem fehlt es mutmasslich an politischen und geschichtlichen Kenntnissen. Der Terrorismus wurde im Zusammenhang mit der Geschichte des Anarchismus auch schon als "Speerspitze des Weltgeistes, gefüllt mit Sprengstoff", bezeichnet. Das ist keine Glorifizierung. Es gilt auch nicht nur für anarchistischen Terror. Wer etwa glaubt, die Attentäter des 11. September 2001 hätten keinen Einfluss auf das Weltgeschehen gewonnen, muss wohl eine andere Weltgeschichte schreiben.

Mögliche Missverständnisse waren indes ein Grund, warum mein Essay vom vergangenen Montag nicht, wie andere meiner Porträts, noch in www.portal-der-erinnerung.de publiziert wurde. Empörung über diesen Beitrag, der im Prinzip durchaus fehlbar sein kann, bleibt meines Erachtens ungerechtfertigt. Ich nehme bloss ernst, dass sich Europa gegenwärtig in einem Eroberungskrieg befindet, was Präsident Hollande mit Wort und Tat zugegeben hat.

Was die nunmehr schon ziemlich lange Serie meiner bei Walter Hess veröffentlichten biographischen Porträts betrifft, habe ich mit dem Kriegsverbrecher László Csizsik-Csatáry bereits mal eine ziemlich fürchterliche Negativfigur dargestellt. Auch solche Figuren sind nun mal historisch. Ich bringe deshalb Verständnis dafür auf, dass Hitler und Stalin es im Magazin "Time" je einmal zum Mann des Jahres geschafft haben. Stalin hat übrigens mal gefragt: "Wieviele Divisionen hat der Papst?" Er unterschätzte die Dimension des Glaubens und des Geistes, durch die nun mal, positiv und nicht nur in letzter Zeit häufig negativ, das Weltgeschehen mitbestimmt wird. Von keinem Kollegen und Freund fühlte ich mich bei solchen Ausführungen jeweils besser verstanden als von Walter Hess. Ich bedaure zutiefst, mich in diesem Fall nicht auf sein Echo berufen zu können. Gerne hoffe ich jedoch, dass das Textatelier noch lange weiterbesteht. Die Mehrheit der Beiträge ist glücklicherweise nicht so geschrieben, dass sie aus politischen Gründen Anstoss erregen können.

 
 
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